„Alles hätte aber auch anders kommen können“

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war – auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman „Aller Tage Abend“ und mit dem unfassbaren Schmerz einer jungen Mutter, die um ihre gerade verstorbene, nur acht Monate alte Tochter trauert. Das Kind ist in der Nacht erstickt, Vater und Mutter standen dabei und wussten sich nicht, wussten dem Kind nicht zu helfen, schrien sich an und sahen hilflos dabei zu, wie es aufhörte zu atmen. Nun trauert die Mutter, die nun keine Mutter mehr ist, um ihr Kind und trauert gleichzeitig um das Mädchen, die Frau, um die alte Dame, die das Kind hätte werden können. Ihr Mann indes kann mit dieser Situation nicht umgehen und flieht, bucht eine Passage auf einem Schiff nach New York und kehrt seinem alten Leben und seiner Frau den Rücken.

Doch: Alles hätte aber auch anders kommen können.

Treibende Kraft in Jenny Erpenbecks Roman „Aller Tage Abend“ ist dieser Gedanke an das „Was wäre, wenn“. Wenn nur kleine Dinge anders gelaufen wären, wenn nur die ein oder andere Entscheidung anders getroffen worden wäre, dann wäre ein Leben plötzlich ganz anders verlaufen. Und so wird aus einem Leben, das früh zu enden droht, plötzlich eine Geschichte, die sich über ein ganzes Jahrhundert hinweg bis in die heutige Zeit erstreckt.

„Aller Tage Abend“ erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie aus Galizien und von ihrem Kampf ums Überleben, zur Jahrhundertwende, im Ersten, im Zweiten Weltkrieg und in der Zeit danach. Ein mal sehr enges, mal sehr locker-distanziertes Band verknüpft die Töchter, Mütter und Großmütter der Familie, die jeweils ebenfalls Töchter, Mütter, Großmütter sind und werden, miteinander. Nach und nach offenbaren sich dem Leser dabei Familiengeheimnisse, die diese mit sich herumtragen, sie aber vor ihren Töchtern oder ihren Müttern verschweigen, seien sie noch so elementar. Spuren in die Vergangenheit werden verwischt, Geschichten mit ins Grab genommen, sodass die Kinder unwissend herumwandeln zwischen den Spuren ihrer Ahnen.

Die Themen, die Jenny Erpenbeck anreißt, sind groß, auch wenn sie teils nur kurz aufleuchten: das Schicksal von Auswanderern, die in der neuen Welt nicht bleiben dürfen und zurückgeschickt werden in den vermutlich sicheren Tod; Hungersnöte; der Holocaust; das Erinnern an die Toten und die Dinge, die nach dem Tod von ihnen bleiben; das Ende der DDR und der Umgang mit dem Wegbrechen eines bis dahin identitätsprägenden Staates; Mutter-Tochter-Beziehungen und ihre Innigkeiten und Verschrobenheiten, ihre Geheimnisse und ihre Vertrautheiten. All das kommt und geht und wird dabei stets bestimmt vom Schmetterlingseffekt:

Vielleicht müsste man einmal die Stärke des Luftzugs untersuchen, den so eine Seele beim Umherirren macht. Vielleicht werden auch hier, mitten in dieser Wüste, einmal Blumen wachsen, Tulpen vielleicht sogar, vielleicht wird die Anwesenheit unzähliger Schmetterlinge eines Tages einmal ebenso wirklich sein, wie es jetzt die Abwesenheit jeglicher Schmetterlinge ist, bei minus 63 Grad Celsius.

Auch wenn die Handlung mit den vielen Dramen, die diese Familie erschüttern, es hergeben würde, ist Jenny Erpenbecks Sprache nie zu emotionsheischend, nie rührselig oder kitschig. Stattdessen vollführt sie kunstvolle Sprachspiele, lässt beispielsweise Gedanken und Handlungen von Menschen ineinanderfließen, über Kontinente hinweg, weil sie etwas verbindet, von dem sie beide nicht loskommen, lässt abgebrochene Sätze und angedeutete Handlungen miteinander verschwimmen zu einem wabernden, mitreißenden Handlungsstrom, flicht immer wieder Gedankenströme von sehr zarter, flüchtiger Poesie ein und findet zwischen all der Härte der Handlung eine zarte Ausdrucksweise für eigentlich Ungeheuerliches – wie beispielsweise für Denunziantentum und Schreibtischtäter:

Vor vielen Jahren hat der eine das eine Wort gesagt, und der andere das andere Wort, Worte haben Luft bewegt, Worte wurden mit Tinte auf Papier geschrieben, wurden abgeheftet, Luft ist aufgerechnet worden mit Luft, und Tinte mit Tinte. Es ist schade, dass man die Grenze nicht sehen kann, an der Worte aus Luft und Worte aus Tinte sich in etwas Wirkliches verwandeln, ebenso wirklich wie eine Tüte Mehl, eine Volksmenge, die in Aufruhr gerät […]

„Aller Tage Abend“ ist eine kunstvoll konstruierte Familiengeschichte, die lange nachhallt. Lesenswert!

♠ Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. Penguin Verlag 2017, 288 Seiten, Taschenbuch, 10,- Euro. ISBN: 978-3328102502 (Jahr der Erstausgabe: 2012). ♠

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