Wie Geschichte sich wiederholt

Gerade die zweite Hälfte dieses Buches zu lesen, hat in den letzten Tagen ein besonders flaues Gefühl hinterlassen. Aufgeteilt in die großen Kapitel „Davor“, „1933“ und „Danach“ steuerte Florian Illies‘ „Liebe in Zeiten des Hasses“ so oder so auf einen Abgrund der Menschheitsgeschichte zu. Aber mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine, mit dem Gefasel seitens Putin von Genozid und „Entnazifizierung“ in der Ukraine, mit Bombenangriffen und Toten tut sich plötzlich auch jetzt wieder ein neuer Abgrund der Geschichte auf.

Viel muss über das Buch vermutlich nicht mehr gesagt werden. Der Spiegel Bestseller-Sticker und die bislang 17 Wochen in der Bestseller-Liste stehen vielleicht für sich. Wie in „1913“ und „1913: Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ verfolgt Florian Illies in „Liebe in Zeiten des Hasses“ die Biografien berühmter Künstler und fasst chronologisch und gern auch humoristisch-lakonisch kommentierend ihr Leben im Jahre 1933, im „Davor“ ab 1929 und, sofern es das noch gab, im „Danach“ bis 1939 zusammen. Anders als bei „1913“ umfasst „Liebe in Zeiten des Hasses“ demnach eine Spanne von elf Jahren, geht als Chronologie daher auch bei weitem nicht so in die Tiefe wie die vorherigen Bände. Das erweckt gerade dann, wenn man „1913“ kennt, den Eindruck eines fast ein wenig flüchtigen Durchhuschens durch die Geschichte, wo man sich doch einen so viel tieferen Einblick gewünscht hätte. Dennoch ist es zweifelsohne eine bemerkenswerte Fleißarbeit von Illies, all die vielen Künstlerbiografien, ihre Liebes-, Leidens- und Fluchtgeschichten so anschaulich aufzuarbeiten und zusammenzustellen, all die Werdegänge, die politischen Verstrickungen, die Geschichten aus dem Exil.

Im Exil, auf der Flucht, sind nun wieder hunderttausende Menschen in Europa. Wenn man Buch und Schutzumschlag wieder zusammenschiebt, sieht man die Farben der ukrainischen Flagge. Die Biografien in diesem Buch sind vielleicht 100 Jahre alt. Der Gegenwartsbezug ist heute aber erschreckenderweise wieder unmittelbarer denn je.

♠ Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929–1939. s. Fischer Verlag 2021, 432 Seiten, gebunden, 24 Euro. ISBN: 978-3-10-397073-9 ♠

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The Joker and the thief in the night

Welche Auswirkungen kann es haben, wenn man von klein auf ungefiltert mit allen Abgründen, die das Internet zu bieten hat, konfrontiert wird? Wie sehr kann die Seele verrohen oder abstumpfen, wenn Videos von Enthauptungen oder von gequälten Katzenbabys so normal sind wie Werbespots? Philipp Winklers neuer Roman „Creep“ porträtiert zwei junge Menschen, bei denen das Darknet nicht das zweite Zuhause ist, sondern das erste.

Zum einen ist da Fanni, Pronomen sie/ihr, wie es in ihrem Social Media-Profil wohl heißen würde. Fannis Kapitel sind konsequent gegendert, wenngleich sie sich sonst wenig um das Thema zu scheren scheint. Außerhalb des binären Geschlechtersystems verortet, fühlt sich Fanni in ihrem Körper wie in einem „Meat Prison“ eingesperrt. Das Internet ist seit Kindheitstagen ihr Fluchtort. „IRL“ arbeitet Fanni in einer Firma, die Überwachungskameratechnik für Privathaushalte anbietet, und ist dort für das Trainieren des Algorithmus zuständig. Hauptmotivation für den morgendlichen Gang zur Arbeit ist aber nicht der Algorithmus, sondern sind Live-Feeds der Überwachungskameras der Kunden, die Fanni wie Reality TV heimlich über ihren Arbeitsmonitor flimmern lässt. Insbesondere eine Familie hat es ihr angetan: die Naumanns. Ohne, dass Mutter, Vater und Tochter Naumann davon wissen, sitzt Fanni mit ihnen tagtäglich am Küchentisch, isst mit ihnen zu Mittag, lauscht ihren Unterhaltungen, lächelt mit in lustigen Situationen, kennt Freunde und Bekannte der Familie – vom Sehen, vom Hören und persönlicher als es diesen sicherlich lieb wäre. Kleiner Nebenverdienst für Fanni sind Kundendaten, die sie sich gern immer mal wieder zieht, um diese im Darknet zu verkaufen. Bis ihr durch Überwachungskamera-Footages irgendwann bewusst wird, dass der Schaden, den sie damit anrichten kann, durchaus real ist.

Opfer werden Täter

Irgendwo über das Überwachungskamera-Material könnte auch Junya huschen, der zweite „Creep“. Obwohl er nicht einmal ansatzweise den Anschein erweckt, führt Junya nachts ein gewalttätiges Doppelleben. Doch ihm das zuzutrauen, fällt schwer. Junya lebt völlig zurückgezogen in seinem verwahrlosten Kinderzimmer. Seine Mutter, zu der er ein zerrüttetes Verhältnis hat, stellt ihm Essen vor sein Zimmer, wäscht seine Wäsche, hat aber sonst jegliche Kontaktversuche aufgegeben, sodass beide zwar in einer Wohnung, aber in völlig unterschiedlichen Welten leben. Junya lebt ansonsten in völliger Isolation – er ist Hikikomori. In Japan bezeichnet man so Menschen, die sich aus der Gesellschaft zurückgezogen und ihren Kontakt zur Außenwelt auf ein absolutes Minimum reduziert haben. Die einzigen Anknüpfungspunkte zur Gesellschaft sind für Junya ein Absageschreiben der örtlichen Kunsthochschule, das er Jahr für Jahr aufs Neue erhält, und Maeda, ein älterer Herr, der ab und an vorbeikommt und mit seinem Anliegen, Junya zu einer Hikikomori-Selbsthilfegruppe mitzunehmen, sehr selten einmal Erfolg hat.

Junya hat andere Wege, seinen Frust und seinen Hass auf die Gesellschaft herauszulassen. Seine persönliche Geschichte ist düster. Die Beziehung zwischen seinen Eltern und ihm war nie von großer Zuneigung geprägt; insbesondere seine Mutter war ihm gegenüber oft gewalttätig. Von Grundschulzeiten an war Junya Opfer extremster Formen des Mobbings, hat viel Ausgrenzung und sehr viel psychische und physische Gewalt erfahren, ohne dass jemand helfend einschritt. Stattdessen fühlte er sich von den Lehrern verraten, die ihm nicht halfen, sondern sogar über Erniedrigungen, die ihm entgegengeschleudert wurden, widerwillig lächeln mussten. Angestachelt von Darknet-Foren, in denen er Zuspruch und Lob erhält, zieht er, mit einer Maske und einem Hammer ausgestattet, los, um sich an Lehrern, die ihn nicht beschützt, sondern verhöhnt haben, zu rächen. Er bricht nachts in Häuser ein und drischt mit seinem Hammer auf die ahnungslos Schlafenden ein. Ein wenig erinnert Junyas Geschichte damit an Todd Phillips‘ „Joker“-Adaption, in der Arthur Fleck als von der Gesellschaft im Stich Gelassener irgendwann selbst zum Täter wird. Eines Nachts wird Junya, der gerade von einem solchen Rachefeldzug zurückkehrt, allerdings jäh aus der ihm vertrauten Umgebung gerissen…

Auch offline immer online

Die vertraute Umgebung ist bei Junya wie auch bei Fanni insbesondere der Computer, ist der Tor-Browser, ist das Darknet, mit seinen Foren und Handelsplattformen. Durch das Dauerfeuer der bildgewaltigen und gewalttätigen Reizüberflutung sind beide emotional völlig abgestumpft, allerdings in unterschiedlichen Graden. Während Junya auch völlig emotionslos filmt, wie er mit dem Hammer Menschen attackiert, ist es für Fanni surreal, eine Schlägerei auf dem Bahnsteig mitzuerleben. Während die anderen Umstehenden wie auch sie allesamt nicht eingreifen, sondern stattdessen gaffen und das Handy zücken, ist Fanni bereits einen Schritt weiter und denkt über passende Headlines zum Video nach.

Das Reallife wird ins Internet gepresst und umgekehrt, in jeder nur möglichen Situation. Während Fanni mit der Tram fährt, denkt sie an Bilder aus einem Subreddit, auf denen Tote der Atombombenexplosion von Hiroshima gezeigt wurden. Oder das, was von ihnen übrig blieb. Steht sie auf einer Firmenfeier, denkt sie an Videos, in denen Hochzeitsgesellschaften in einstürzenden Gebäuden sterben. – Alles an normaler Emotion scheint bei Junya und Fanni gelöscht und überschrieben worden zu sein mit Brutalität und Abgestumpftheit. Mit der Welt und echtem Sozialkontakt können sie nichts mehr anfangen und sehnen sich stattdessen nur noch nach der vertrauten 2D-Umgebung des Computerbildschirms.

Das wird teilweise bis zur Groteske verdreht. So sitzt Fanni nach Feierabend gern im Computerspiel „Dark Souls“ stundenlang an einem See, genießt die Atmosphäre und wünscht sich, dass es im Internet auch irgendwo einen solchen Ort gebe, „von jeglichen Lebenszeichen befreit“, ein Vakuum, „weit weg von den elektrisch knisternden Knotenpunkten und Datenhighways, von den verzweifelten Signalen, die sich die User_innen, großgeschrieben und mit Anführungszeichen verstärkt, zuschreien“.  Äh, ja. Aber „Herunterfahren“ scheint ein überflüssiges Feature des Computers zu sein, das bei Fanni ungenutzt bleibt.

Ihr wisst schon… abschalten.

Nach dem starken Debüt-Roman „Hool“, der die Hooligan-Szene porträtiert (und dem schmalen, leider weit dahinter zurückbleibenden Roman „Carnival“, der sich um Kirmes-Schausteller dreht), hat sich Philipp Winkler nun erneut einem Milieu zugewandt, dessen Mitglieder am liebsten unter sich bleiben – einer geschlossenen und verschlossenen Gesellschaft. Auch wenn das Erzähltempo zeitweise nachlässt, ist „Creep“ ein lesenswerter Roman über die Extreme, die eine mediale Dauerbeschallung hervorbringen kann und ein Denkanstoß in Richtung Medienkonsum, insbesondere bei Kindern. Trotz der Darstellung einer Voyeurin ist es dabei glücklicherweise wenig voyeuristisch – „creepy“ ist es dennoch allemal.

Allen, die bei Gender-Unterstrichen nicht gleich schreiend die Wände hochlaufen und denen weder Döskopp-Anglizismen („Dann kommt er auf den Object-Recognition-Algorithmus zu sprechen und darauf, wie satisfied die Führungsetage mit dem Leap sei, den dieser in den vergangenen Monaten noch einmal gemacht habe.“) noch zahlreiche japanische Fremdwörter, die selbst für manchen Otaku herausfordernd sein können, etwas ausmachen, sei der Roman hiermit empfohlen. Er kommt ohne wedelnden moralischen Zeigefinger aus, verbleibt aber dennoch nicht beim „for the lulz“. Um’s mit Fannis Worten zu sagen: Er hinterlässt einen bitteren „Aftertaste“.

♠ Philipp Winkler: Creep. Aufbau Verlag 2022, 342 Seiten, Hardcover, 22 Euro. ISBN: 978-3-351-03725-3. ♠

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Milch Blut Hitze

Religiöser Fanatismus und das Ausbrechen aus engen gesellschaftlichen Konventionen, die dünne Linie zwischen Leben und Tod, enge Freundschaften, durch die ein jäher Riss geht oder die Verdrängung schmerzhafter Ereignisse – das ist nur ein kleiner Auszug aus den schweren Themen, die Dantiel W. Moniz in ihren auf den ersten Blick so leicht daherkommenden Kurzgeschichten thematisiert.

Elf Kurzgeschichten bilden das Debüt „Milk Blood Heat“ der US-amerikanischen Autorin. Allesamt verortet im heißen Florida, haben diese sehr unterschiedlichen Kurzgeschichten gemeinsam, dass eine kämpferische und starke weibliche Hauptfigur im Zentrum der Erzählung steht, sei sie Kind, Heranwachsende oder bereits erwachsen. In der Hitze Floridas erleben diese Mädchen und Frauen Erschütterndes, Tragisches, aber auch Erfreuliches, das ihr Leben nachhaltig durcheinanderwirbelt. Die Szenerien kommen alltäglich daher, offenbaren aber jeweils tiefgehende, große Themen, den eigentlichen Fokus der Geschichten: Rassismus, Gewalt, Tod und fragile Familienbeziehungen und Freundschaften. Die Kurzgeschichten geben dabei einen intimen Einblick in die Gefühlswelten der Protagonistinnen, in ihr Aufwachsen und Erwachsenwerden, ihre Abhängigkeiten und ihre Wege in die Eigenständigkeit.

„We did drawings today,“ she says, and promises to show me later. I know what I’m supposed to say, but I can’t. I am a dead satellite, picking up information but relaying nothing back. She’s a smart kid, she senses this. She tells me she missed me, and because I’m trying, because I love her, I lie.

„I missed you, too,“ I say, and guide the car onto the road.

Jede der Kurzgeschichten ist meist kaum länger als fünfzehn bis zwanzig Seiten. Dennoch schafft Moniz es bravourös, den Leser unmittelbar in den Bann zu ziehen und auch innerhalb dieser wenigen Seiten eine mitreißende und dichte Atmosphäre zu erzeugen. Dieses Debüt macht Lust auf sehr viel mehr. Wie gut, dass Moniz gerade an ihrem ersten Roman arbeitet.

„Milk Blood Heat“ ist 2021 in den USA beim Indie-Verlag Atlantic Books herausgekommen und erscheint morgen auf Deutsch als „Milch Blut Hitze“ bei C. H. Beck.

♠ Dantiel W. Moniz: Milk Blood Heat. Stories. Atlantic Books 2021, 202 Seiten, gebunden, ohne Buchpreisbindung. ISBN: 978-1838950583; deutsche Ausgabe: Milch Blut Hitze. Storys. C. H. Beck 2022, 230 Seiten, 23,- Euro. ISBN: 978-3406781575. ♠

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The unquiet grave

Während im Februar 1862 im Zuge des gerade wütenden Sezessionskriegs auf den Kriegsschauplätzen unzählige Soldaten sterben, stirbt in Washington Abraham Lincolns 11-jähriger Sohn Willie an einer Typhus-Erkrankung. Der von Trauer gezeichnete Präsident kehrt nach der Beerdigung mehrfach zum Grab des Sohnes zurück. Zeitgenössische Zeitungen berichten, dass er den Leichnam seines Sohnes aus dem Sarg nahm, trauernd, niedergeschmettert, verzweifelt. Hieraus entspinnt sich nun George Saunders Idee zu „Lincoln in the Bardo“, wo der Autor den gerade verstorbenen Willie und seinen Vater auf dem Friedhof aufeinandertreffen lässt.

Willie findet sich auf dem Friedhof inmitten einer illustren Gesellschaft von Friedhofsbewohnerinnen und -bewohnern wieder, die darauf warten, wieder gesund zu werden, um endlich in ihr früheres Leben zurückkehren zu können, wo sie noch wichtige Dinge zu erledigen haben, noch Wichtiges auszurichten haben an die, die dort auf sie warten. Wir sind im Bardo, nach buddhistischem Glauben dem Zwischenreich zwischen Dies- und Jenseits.

In einer Mischung aus Collage und Theaterstück erzählt Saunders in „Lincoln in the Bardo“ (2017 auf Englisch im Verlag Random House erschienen, 2018 bei Luchterhand als „Lincoln im Bardo“ auf Deutsch) vom Verlust des Sohnes und der familiären Tragödie der Lincolns auf der einen Seite und den Schwierigkeiten, vom früheren Leben loslassen zu können und der Angst vor dem unbekannten Danach auf der anderen.

Unterschiedlichste Charaktere bevölkern das Zwischenreich auf dem Friedhof, manche zu Grimassen, Fratzen, unförmigen Wesen verzerrt, manche durchaus zufrieden, manche halb vergessen vor sich hinvegetierend. Während sich die meisten nur um sich selbst kümmern, sorgen sich drei Bewohner des Friedhofs, Hans Vollman, Roger Bevins III und Reverend Everly Thomas, um Willie Lincoln, denn für ein Kind ist es mehr als ungewöhnlich, dass es im Bardo länger als nur wenige Minuten verbringt. Normalerweise verschwinden Kinder fast umgehend wieder aus dem Zwischenstadium. Willie aber sitzt oben auf seiner Gruft und wartet – darauf, dass sein Vater zurückkommt. Und während Vollman, Bevins und Thomas versuchen, ihm das Warten auszureden, geschieht das für sie völlig Unvorstellbare: Der Vater kommt zurück, geht in Willies Gruft und hebt dessen Leichnam aus dem Sarg.

Parallel zur Handlung auf dem Friedhof lesen wir Zeitungsausschnitte, Tagebuchnotizen, Briefauszüge, die sich mit dem Leben Abraham Lincolns und dem Verlust seines Sohnes beschäftigen, lesen Auszüge aus Hasspost, lesen mitfühlende Berichte, Vorwürfe, Häme. Die Stärke von „Lincoln in the Bardo“ liegt zweifelsohne in dieser Collage – in der Ansammlung verschiedenster Quellen, die sich schon über die kleinsten Fakten uneins sind, sei es die Augenfarbe Lincolns („dark grey“, „a luminous gray color“, „gray-brown eyes“, „His eyes were bluish-brown“, „bluish-gray“, „kind blue eyes“), sein Aussehen, seine Benehmen oder sein Charakter. Ein Spiel mit der Unsicherheit von Zuschreibungen, Augenzeugenberichten, historischen Quellen, mit der Geschichtsschreibung und ihrer Greifbarkeit. Auch diese Seite wirkt dadurch wie ein Gewirr verschiedenster Stimmen, die wie die Geister auf dem Friedhof durcheinanderreden und ihre völlig unterschiedlichen Interpretationen beisteuern. Schade ist allerdings, dass Saunders den Leser dabei im Unklaren lässt, ob es sich dabei um echte Quellen handelt oder um fiktive – nachgestellt ist ihnen immer ein Zitationsnachweis, der in vielen Fällen auch zu echten Quellen führt, der teils aber auch erfunden ist. Das nimmt der Collage ein wenig die Wucht, zumal man, will man mit dem Lesen kein Quellenstudium verbinden, schlichtweg nicht weiß, ob das jeweilige Zitat nun echt oder ausgedacht ist.

Auch das Verhältnis zwischen Ernst und Humor wirkt teils nicht ganz austariert. Geradezu pubertäre Szenen gehen einher mit vielen tragischen Figuren, die verletzt und geschunden über den Friedhof irren, die in nur wenigen Sätzen ganze Abgründe aufreißen – seien es Mordopfer, Vergewaltigungsopfer oder andere Seelen. Auf der Suche nach Hilfe, Erlösung oder einem Ausweg sind sie teils kaum verständlich, sprechen oftmals in Sätzen, die im Nichts enden. Auch ihre äußere Erscheinungsform ist manchmal auch für die anderen kaum noch erkennbar, wie bei Mr. Papers, der kaum mehr als ein Strich ist und hilfesuchend umherirrt („Cannery anyhelpmate? Come. To. Heap me? Cannery help?“). Daneben wirkt so manch eine Stelle mit „Untenrum-Witzchen“ seltsam unpassend.

Dennoch ist „Lincoln in the Bardo“ eine kurzweilige, tragikomische Lektüre. Es wäre nur schöner gewesen, wenn nachvollziehbar gewesen wäre, ob beispielsweise der herzzerreißende, Schreibfehlern nur so strotzende Brief eines Vaters, der gerade seinen Sohn im Bürgerkrieg verloren hat und nun vorwurfsvoll an Lincoln schreibt, echt ist. Dann wären solche Stellen vielleicht von vornherein nicht mit Enttäuschung verbunden, wenn man nach entsprechender Recherche herausfindet, dass sie zu den fiktionalen „Quellen“ gehören.

♠ George Saunders: Lincoln in the Bardo. Deutsche Taschenbuchausgabe: Lincoln im Bardo. btb Verlag 2019, 448 Seiten, 12,- Euro. ISBN: 978-3442718979. ♠

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Das dunkle Übel

„Il male oscuro“ – das dunkle Übel nannte Ingeborg Bachmann die Krankheit, unter der sie seit ihrem Zusammenbruch Ende 1962 litt und für die es zunächst keine passende Diagnose gab. Lange wurde nur nach körperlichen Ursachen geforscht. Dass es auch eine Krankheit der Seele war, verstand auch Bachmann erst spät. Wie sehr die Krankheit ihr Leben, ihr Denken und ihren Alltag bestimmte, bekommt man in „Male oscuro – Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit“ deutlich zu spüren. Sehr persönliche Schriften aus dem Nachlass von Ingeborg Bachmann sind darin versammelt und erstmals veröffentlich worden, von Beginn des Jahres 1963 bis in die späten 1960er Jahre: Traumnotate, Briefentwürfe an verschiedene Adressaten und zwei Redeentwürfe an „die Ärzteschaft“.

Fast schon monokausal wird oft die gescheiterte Beziehung zu Max Frisch, seine Abkehr von Ingeborg Bachmann und die neue Liebe zu Marianne Oellers als Grund für Bachmanns psychischen Zusammenbruch gesehen. Und ja, Max Frisch durchzieht wie ein immer wieder heraufbeschworener Geist der Vergangenheit die hier veröffentlichten Dokumente, taucht wieder und wieder in verzerrten Träumen auf – einmal gar als lachend, als würde er die Träumende verhöhnen. Auch die Veröffentlichung seines Romans „Mein Name sei Gantenbein“, den Bachmann später als großen Verrat an intimen Geheimnissen über sie ansieht und der sie in weitere psychische Krisen stürzt, fällt in die Zeit der hier abgedruckten Dokumente. Kann man den Redeentwürfen an die Ärzteschaft Glauben schenken, fallen in diese Zeit auch ein unerfüllter Kinderwunsch, eine Gebärmutterentfernung, Alkohol- und Tablettensucht, Selbstmordversuche.

In ihren Redeentwürfen an die Ärzteschaft versucht Bachmann, dem Schrecken der psychischen Krankheit Worte zu verleihen, als eine jener wenigen Patientinnen, die einerseits die Möglichkeit hat, passende Worte zu finden und die andererseits auch die Scham überwinden und es wagen möchte, über das Abgründige in der Seele zu sprechen.

Spätestens durch den intimen Einblick in die Aufzeichnungen wird deutlich, wie sehr Leben und Literatur bei Ingeborg Bachmann ineinander übergehen. Die Traumnotate, die Bachmann vermutlich größtenteils im Rahmen ihrer Behandlung für ihren Arzt angefertigt hat, werden sich später, teils komplett übernommen, teils leicht angepasst, im Traumkapitel von Bachmanns einzig fertiggestelltem Roman „Malina“ wiederfinden. Insofern sind die Traumnotate vielleicht ein wahrer Albtraum für Hermeneutiker. Für die Entstehungsgeschichte von Bachmanns Roman „Malina“ und der Fragment gebliebenen weiteren Teile ihres Todesarten-Projekts liefern die hier versammelten Dokumente aber wertvolle Hintergrundinformationen.

Eingebettet werden die Dokumente aus Bachmanns Nachlass in einen umfassenden Kommentar, der nicht nur die vielen Chiffren in ihren Notaten und Briefentwürfen zu entschlüsseln versucht, sondern auch wertvolle Hintergrundinformationen zu den biografischen Geschehnissen der jeweiligen Schreibsituationen liefert. Den Abschluss bilden 23 Seiten mit Faksimiles einzelner Dokumente.

Den Originaltexten Bachmanns steht geradezu so viel Kommentar gegenüber, dass der Anteil an Bachmann-Texten in diesem Band geradezu schmal wirkt. Vielleicht reiht sich hier ein Entstehungskommentar an den anderen, eine literaturwissenschaftliche Aufdröselung der Texte in Bezug auf Bachmanns Werk an die nächste, um dem Eindruck zu entgehen, man drucke einfach nur voyeuristisch privateste Aufzeichnungen ab. Der Eindruck mag sich einstellen, ebenso wie bei Briefsammlungen, die einst nie zur Veröffentlichung gedacht waren.

„Male oscuro“ war 2017 der Auftakt zur Salzburger Bachmann Edition. In der auf 40 Bände ausgelegten Edition werden zahlreiche bisher unveröffentlichte Dokumente aus dem Nachlass Bachmanns erscheinen. Inzwischen sind hier bereits „Das Buch Goldmann“ (Mai 2017), „Das dreißigste Jahr“ (November 2020), der Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger (Oktober 2018) und zuletzt der Briefwechsel mit Ilse Aichinger und Günter Eich (Oktober 2021) herausgegeben worden. Spannend wird es für Bachmann- und Frisch-Fans vor allem, wenn in der Edition der Briefwechsel zwischen den beiden Autoren veröffentlicht wird. Für zwanzig Jahre nach seinem Tod ließ Frisch diese sperren. Diese sind nun um.

♠ Ingeborg Bachmann: »Male oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Piper Verlag 2017, 272 Seiten, broschiert, 16,- Euro. EAN: 978-3-492-31636-1. ♠

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The Carnival Is Over

Das Riesenrad dreht sich nicht mehr, die Buden sind weg. Wo früher eine Kirmes stand, sind nun Parkplätze, Einkaufszentren und Industriegebiete. So beginnt sie, die Klage des namenlosen Schaustellers in „Carnival“.

Zu verorten ist der Erzähler vermutlich in den USA. Seine Hauptaufgabe scheint vor allem zu sein, das schillernde, eigenbrötlerische fahrende Volk vorzustellen, das Personal des „Carnival“. Als ginge er von Bude zu Bude, reiht er die verschiedensten Persönlichkeiten an den Spiel- oder Fressbuden, dem Schaukampf und der Freak Show auf, erzählt davon, wie sie auf dem Jahrmarkt geboren wurden und aufwuchsen oder wie sie zufällig ihren Weg zu den „Kirmsern“ fanden und blieben – ein zwar zusammengewürfelter, aber in sich geschlossener Verbund.

Ihnen, den Schaustellern, sind die Jahrmarktsbesucher entgegengestellt, jene, die nur zum Vergnügen auf die Kirmes kommen, um sich vollzufressen, sich zu betrinken und um Spaß zu haben. Verächtlich schauen die Schausteller auf ihre Kundschaft, auf deren Geld sie angewiesen sind und für die sie eine ganze Reihe abschätziger Spitznamen haben, die „Steifen Jonnys“ mit ihren „Bälgern“, die „Marks“, die „Örtler“. Über die 119 Seiten des Romans erstreckt sich diese Gegenüberstellung des „Ihr“ und „Wir“ und aus dem Ton des Erzählers dringt tiefe Verachtung für die „Örtler“, die früher ihren Spaß auf der Kirmes haben wollten, die aber irgendwann die Lust daran verloren, weil sie dank Fernsehen und Internet nun nicht mehr aus dem Haus zu gehen brauchen, um sich zu amüsieren.

Mit seinem Debüt „Hool“ ist Philipp Winkler dafür bekannt geworden, einer sonst in der Literatur selten vorkommenden gesellschaftlichen Gruppe, den Hooligans, eine Stimme gegeben zu haben. Mit „Carnival“, so scheint es, unternimmt er den nächsten Versuch, einer Personengruppe eine Stimme zu geben, die sonst selten portraitiert wird. Doch leider mag dieses Mal das nicht wirklich gelingen. Abgesehen davon, dass die Kirmes, die der Ich-Erzähler in nostalgisch-verbitterten Farben malt, völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint (Freak Shows / Sideshows, Ringkämpfe) und eher wie eine Kreuzung aus Jahrmarkt und Zirkus wirkt (Messerwerfer, Schwertschlucker), bleibt die Front zwischen dem „Ihr“ und dem „Wir“ zu plakativ, der abschätzige Blick und die Anklage an das wegbleibende Publikum zu pauschal, zu verbittert und zu eindimensional.

Vor dem Hintergrund der lebendigen Volksfestkultur in Deutschland wirkt „Carnival“ wie ein Kampfschauplatz, den es hier überhaupt nicht gibt. Stattdessen ist es von trauriger Ironie, dass gerade jetzt, wenn dieses Buch erscheint, Schausteller reihenweise um ihre Existenz fürchten – aber mitnichten aufgrund der Unlust des Publikums, sondern weil die Corona-Pandemie ihnen einen Strich durch sämtliche Planungen gemacht hat. Corona hat dazu geführt, dass zahllose Schaustellerinnen und Schausteller seit den Weihnachtsmärkten im vergangenen Jahr keinerlei Umsatz mehr gemacht haben. Keine Frühlingsjahrmärkte, keine Volksfeste, kein Herbstjahrmarkt. Die Volksfestkultur in Deutschland ist nicht wegen der Unlust der Besucher zum Erliegen gekommen. Das Problem, die wegbleibende Kundschaft, mag das gleiche sein, aber der Auslöser ist ein völlig anderer.

Bleibt zu hoffen, dass Corona die Volksfeste nicht ganz auf dem Gewissen haben wird. Denn die „Örtler“ wären da.

♠ Philipp Winkler: Carnival. Aufbau Verlag 2020, 119 Seiten, gebunden, 14,- Euro. ISBN: 978-3-351-03828-1. ♠

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Der Dichter und sein Henker

Es war die öffentlich zelebrierte Hassliebe zweier großer Persönlichkeiten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts: die Verbindung zwischen dem Schriftsteller Günter Grass und dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Zwei Männer, deren Lebensläufe so völlig unterschiedlich verliefen, die über die Literatur aber trotzdem zueinander fanden und sich lieben und hassen lernten.

Volker Weidermann hat die Lebensgeschichten von Reich-Ranicki und Grass, ihre persönlichen und beruflichen Werdegänge und ihre kollegialen, freundschaftlichen und wuterfüllten Verbändelungen in „Das Duell“ nacherzählt. Linear beginnt er mit der Kindheit und Jugend beider, die vom Zweiten Weltkrieg jeweils auf ganz unterschiedliche Weise geprägt und gezeichnet wurden: Der eine, gebürtiger Pole, macht in Berlin sein Abitur und wird, anstatt studieren zu dürfen, aus dem Land geworfen, weil er Jude ist. Nur durch viele glückliche Zufälle überlebt er als einer von wenigen das Warschauer Ghetto. Der andere, sieben Jahre jünger und in Danzig geboren, will unbedingt in den Krieg ziehen, ist aber zu jung. Erst gegen Ende wird er endlich eingezogen, tritt siebzehnjährig und fest entschlossen der Waffen-SS bei – und wird dies fast sein gesamtes Leben über verschweigen. Erst über 60 Jahre später erzählt Grass davon; da ist er schon längst Literaturnobelpreisträger.

1958 treffen sich beide zum ersten Mal, Günter Grass hat seine Arbeit an der „Blechtrommel“ dort fast beendet, Reich-Ranicki zieht in jenem Jahr nach Deutschland und fasst dort Fuß als Literaturkritiker. Im darauffolgenden Jahr erscheint die „Blechtrommel“ und mit ihr eine vernichtende Kritik von Reich-Ranicki. Der Gongschlag zur ersten Runde in einem Zweikampf, den beide länger als ein halbes Jahrhundert austragen werden.

Gespickt mit vielen kleinen Anekdoten und mit einem umfangreichen Hintergrundwissen erzählt Volker Weidermann, welche Lebenswege und Schicksalsschläge die beiden Männer geprägt haben, auf welchen verschlungenen Wegen sie zueinanderkamen und wie sie sich zeitlebens nicht mehr voneinander lösen konnten. Ihr literarisches Duell fochten sie bis zum Tod aus. Über den manchmal etwas jovialen Ton kann man getrost hinweglesen, denn Weidermann gelingt eine spannende, mal dramatische, mal traurige, mal komische und durchweg interessante Biografie über ein sehr ungleiches Paar, über die Liebe zur Literatur, über ein Stück deutscher Literaturgeschichte und den Umgang mit der Schuld – der kollektiven und der persönlichen.

♠ Volker Weidermann: Das Duell. Kiepenheuer & Witsch 2019, 320 Seiten, gebunden, 22,- Euro. ISBN: 978-3-462-05109-4 ♠

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„Hugo ruft.“

Er ist ein Stück zerbrechliche Literatur: der Liebesbrief. Er kann Ausdruck der Sehnsucht, des Vermissens, der Vernarrtheit, der innigen Liebe sein, aber auch Zeugnis von Verbitterung, Verletztheit und Eifersucht. Er kehrt das Innerste nach außen und bannt es auf Papier, nur für einen Adressaten bestimmt.

Und doch werden manche Liebesbriefe irgendwann veröffentlicht. Der Band „Schreiben Sie mir, oder ich sterbe“, herausgegeben von Petra Müller und Rainer Wieland, versammelt Liebesbriefe berühmter Personen, von Schriftstellern, Schauspielerinnen, Königen, von Malerinnen, Journalisten, Musikern und Wissenschaftlerinnen, und legt damit Bruchstücke intimster Korrespondenzen aus insgesamt neun Jahrhunderten offen – angefangen bei einem Liebesbrief aus dem Jahr 1133 und endend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Friedrich Nietzsche macht einen spontanen Heiratsantrag und zieht ihn direkt schuldbewusst zurück, Jean-Paul Satre schreibt an seine „süße kleine Blume“ Simone de Beauvoir, Ludwig van Beethoven und Charles Baudelaire schreiben an unbekannt gebliebene Geliebte und Anaïs Nin überschüttet Henry Miller schriftlich mit anzüglichsten Liebesbekundungen, während aus dem Nebenzimmer ihr Ehemann ruft.

Ich möchte mit Dir so wilde Dinge tun, dass ich nicht weiß, wie ich sie sagen soll.
Hugo ruft. Ich werde den Rest des Briefs heute Abend beantworten.

Derweil sinniert ein liebestrunkener und eifersüchtelnder Fernando Pessoa:

Leb wohl; ich werde mich mit dem Kopf nach unten in einen Eimer legen, um meinen Geist auszuruhen. So machen es alle großen Männer – zumindest, falls sie haben: 1. Geist, 2. Kopf, 3. einen Eimer, in den sie den Kopf hineinstecken können.

Manche Briefe sind beschwingt, humorig und Ausdruck glücklicher Verliebtheit, andere zeugen von Wehmut, von Abschiedsschmerz und vom Scheitern. Persönlichste Kommunikation, die man nicht ohne ein seltsames Gefühl des Voyeurismus lesen kann. Eingerahmt werden die einzelnen Briefe von Begleittexten, die die Umstände des jeweiligen Dokuments erläutern, außerdem von einer Vielzahl an Fotografien, Malereien und von Faksimiles diverser Briefe. Neben dem Blick auf die Briefe und ihre Autorinnen und Autoren im Speziellen ist der Band aber auch eine Liebeserklärung an das Schreiben im Allgemeinen, an den persönlichen Brief, an die Handschrift und an Post, auf die man lange sehnsüchtig wartet und die teils viele hundert Kilometer zu ihrem Adressaten überwindet. Vielleicht – gerade jetzt – eine Form des Ausdrucks von Zuneigung in Zeiten räumlicher Trennung, die man wieder häufiger nutzen könnte.

♠ Petra Müller, Rainer Wieland (Hrsg.): »Schreiben Sie mir, oder ich sterbe«. Liebesbriefe berühmter Frauen und Männer. Piper 2016, 296 Seiten, gebunden, 42,- Euro. ISBN: 978-3492057943. ♠

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With Teeth

Erst verschluckte der Nebel die Landschaft, Die Vögel fielen desorientiert und angekohlt vom Himmel und starben. Dann kam die Sonne und mit ihr eine unerbittliche Hitze und alles verlor seine Farbe. Fell und Gefieder der Tiere wurden heller und heller, bis sie schließlich weiß waren.

In dieser lebensfeindlichen Landschaft lebt Skalde mit ihrer Mutter Edith. Beide verbindet das Ausgeschlossensein von den anderen, von jenen, die schon immer hier lebten und die alles von außen Kommende mit Missgunst und Ablehnung strafen. Auch Skalde wurde hier geboren, aber Edith kam vor vielen Jahren über den Fluss in die Gegend – und das obwohl die große Brücke über den Fluss, die einzige Verbindung, auch damals schon gesprengt war. Das macht sie beide zu Außenseiterinnen.

„Wieso haben sie Angst vor mir?“, fragte sie.
„Weil du nicht so bist wie sie“, antwortete ich.

Ausfallende Milchzähne sind es, die zeigen, dass man aus der Gegend ist, dass man kein Fremder ist, der nur Unheil bringt. Wenn die Milchzähne ausfallen, gehört man dazu. Mehr oder weniger. Denn zwar fielen Skalde die ersten Zähne aus, trotzdem war ihre Kindheit in dieser rauen, versprengten Gesellschaft alles andere als einfach. Doch der Mechanismus der Verdrängung scheint größer zu sein als die Einsicht über die lebensfeindliche Umwelt. Skalde hat sich mit ihrer Umgebung zurechtgefunden, es ist ihre Heimat. Bis sie ein Mädchen mit feuerrotem Haar allein im Wald findet und Skaldes Leben damit auf den Kopf gestellt wird. Denn das Mädchen ist keine von ihnen.

Atmosphärisch dicht handelt Helene Bukowskis Debütroman „Milchzähne“ von einem Leben auf der Flucht vor dem Klima, von dem Versuch der Anpassung an die Erbarmungslosigkeit der Hitze, an die Schroffheit der Menschen in einer Art von klimatischer Präapokalypse. Es ist ein Roman über die schwierige Definition von Heimat, der anschaulich das Außenseitersein beschreibt, das Ausgestoßenwerden und den Rückfall der Menschen in Aberglauben und tiefes Misstrauen, sobald die Ressourcen knapp werden. Und „Milchzähne“ ist die Geschichte einer schwierigen Mutter-Kind-Beziehung, von Brutalität, Apathie und der Liebe zur Literatur, von Verlust und Fürsorge.

Die kurzen Sätze und die schnelle Art des Erzählens machen den Roman zu einem temporeichen Debüt, das auf mehr hoffen lässt – auf viel, viel mehr, nach diesen 220 viel zu schnell durchflogenen Seiten.

♠ Helene Bukowski: Milchzähne. Blumenbar 2019, 256 Seiten, gebunden, 20,- Euro. ISBN: 978-3351050689. ♠

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De, de, de – wer, wie, was…

Deutsch Sprache, schwer Sprache. De Satz ist gut bekannt auch deutschsprachig Aufgewachsenen. Wie schwierig sich gestaltet de Deutschlernen fuer e Fluechtling, de kommt ila Deutschland und will beginnen hier e neu Leben, Abbas Khider schildert in sein „endgueltig“ Lehrbuch „Deutsch fuer alle“. Und er bleibt nicht nur bei de Schilderung, er anbietet ganz praktisch Vorschlaege, mit den de deutsch Sprache kann gestaltet werden weniger kompliziert und fuer Deutschlernende mehr zugaenglich.

Angefangen bei voellig ueberfluessig Woerter wie „der, die, das“ und „einer, eine, eines“, de werden zu „de, de, de“ und „e, e, e“, Khider geht ueber de Abschaffung min de Genitiv, min de Umlaute Ä, Ö, Ü und min de ß ila hin zu de Einfuehrung einig vereinfachend, aus de Arabisch entlehnt Praepositionen. De deutsch Sprache wird min Khider „grundsaniert“.

De immer wieder eingestreut Textbeispiele machen zu lesen de „Lehrbuch“ anschaulich und gleichsam amuesant. Lohnend ist auch de Einblick in die viel Stolpersteine, de gelegt werden de Deutschlernende und vor allem deutschlernend Fluechtlinge in de Weg – und damit sind gemeint nicht nur sprachlich, sondern auch zwischenmenschlich Stolpersteine. Schmerzlich vermisst man am Ende allerdings zumindest e vollstaendig in Neudeutsch verfasst Kapitel, de transportiert anschaulich gleichsam Inhalt und neu geschaffen Form. Auch gibt es sicherlich de e oder ander Stelle, an der klar wird schon in de Beispieltext, dass mit de neu Regeln entstehen können vielleicht ungewollt Missverstaendnisse.

Trotzdem: E kurzweilig Lektuere fuer an Sprachspiele Interessierte und auch fuer all, de bekommen wollen e klein Einblick in de Schwierigkeiten, als Auslaender de deutsch Sprache erlernen zu wollen. Dass Khider kassierte nach Erscheinen von de Buch e Shitstorm, weil manch e Deutscher sich getreten fuehlte offenbar auf de Schlips, laesst ein nur schuetteln beschaemt mit de Kopf.

♠ Abbas Khider: Deutsch für alle. Das endgültige Lehrbuch. Hanser Verlag 2019, 128 Seiten, gebunden, 14,- Euro. ISBN: 978-3446261709. ♠

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