„Il male oscuro“ – das dunkle Übel nannte Ingeborg Bachmann die Krankheit, unter der sie seit ihrem Zusammenbruch Ende 1962 litt und für die es zunächst keine passende Diagnose gab. Lange wurde nur nach körperlichen Ursachen geforscht. Dass es auch eine Krankheit der Seele war, verstand auch Bachmann erst spät. Wie sehr die Krankheit ihr Leben, ihr Denken und ihren Alltag bestimmte, bekommt man in „Male oscuro – Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit“ deutlich zu spüren. Sehr persönliche Schriften aus dem Nachlass von Ingeborg Bachmann sind darin versammelt und erstmals veröffentlich worden, von Beginn des Jahres 1963 bis in die späten 1960er Jahre: Traumnotate, Briefentwürfe an verschiedene Adressaten und zwei Redeentwürfe an „die Ärzteschaft“.
Fast schon monokausal wird oft die gescheiterte Beziehung zu Max Frisch, seine Abkehr von Ingeborg Bachmann und die neue Liebe zu Marianne Oellers als Grund für Bachmanns psychischen Zusammenbruch gesehen. Und ja, Max Frisch durchzieht wie ein immer wieder heraufbeschworener Geist der Vergangenheit die hier veröffentlichten Dokumente, taucht wieder und wieder in verzerrten Träumen auf – einmal gar als lachend, als würde er die Träumende verhöhnen. Auch die Veröffentlichung seines Romans „Mein Name sei Gantenbein“, den Bachmann später als großen Verrat an intimen Geheimnissen über sie ansieht und der sie in weitere psychische Krisen stürzt, fällt in die Zeit der hier abgedruckten Dokumente. Kann man den Redeentwürfen an die Ärzteschaft Glauben schenken, fallen in diese Zeit auch ein unerfüllter Kinderwunsch, eine Gebärmutterentfernung, Alkohol- und Tablettensucht, Selbstmordversuche.
In ihren Redeentwürfen an die Ärzteschaft versucht Bachmann, dem Schrecken der psychischen Krankheit Worte zu verleihen, als eine jener wenigen Patientinnen, die einerseits die Möglichkeit hat, passende Worte zu finden und die andererseits auch die Scham überwinden und es wagen möchte, über das Abgründige in der Seele zu sprechen.
Spätestens durch den intimen Einblick in die Aufzeichnungen wird deutlich, wie sehr Leben und Literatur bei Ingeborg Bachmann ineinander übergehen. Die Traumnotate, die Bachmann vermutlich größtenteils im Rahmen ihrer Behandlung für ihren Arzt angefertigt hat, werden sich später, teils komplett übernommen, teils leicht angepasst, im Traumkapitel von Bachmanns einzig fertiggestelltem Roman „Malina“ wiederfinden. Insofern sind die Traumnotate vielleicht ein wahrer Albtraum für Hermeneutiker. Für die Entstehungsgeschichte von Bachmanns Roman „Malina“ und der Fragment gebliebenen weiteren Teile ihres Todesarten-Projekts liefern die hier versammelten Dokumente aber wertvolle Hintergrundinformationen.
Eingebettet werden die Dokumente aus Bachmanns Nachlass in einen umfassenden Kommentar, der nicht nur die vielen Chiffren in ihren Notaten und Briefentwürfen zu entschlüsseln versucht, sondern auch wertvolle Hintergrundinformationen zu den biografischen Geschehnissen der jeweiligen Schreibsituationen liefert. Den Abschluss bilden 23 Seiten mit Faksimiles einzelner Dokumente.
Den Originaltexten Bachmanns steht geradezu so viel Kommentar gegenüber, dass der Anteil an Bachmann-Texten in diesem Band geradezu schmal wirkt. Vielleicht reiht sich hier ein Entstehungskommentar an den anderen, eine literaturwissenschaftliche Aufdröselung der Texte in Bezug auf Bachmanns Werk an die nächste, um dem Eindruck zu entgehen, man drucke einfach nur voyeuristisch privateste Aufzeichnungen ab. Der Eindruck mag sich einstellen, ebenso wie bei Briefsammlungen, die einst nie zur Veröffentlichung gedacht waren.
„Male oscuro“ war 2017 der Auftakt zur Salzburger Bachmann Edition. In der auf 40 Bände ausgelegten Edition werden zahlreiche bisher unveröffentlichte Dokumente aus dem Nachlass Bachmanns erscheinen. Inzwischen sind hier bereits „Das Buch Goldmann“ (Mai 2017), „Das dreißigste Jahr“ (November 2020), der Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger (Oktober 2018) und zuletzt der Briefwechsel mit Ilse Aichinger und Günter Eich (Oktober 2021) herausgegeben worden. Spannend wird es für Bachmann- und Frisch-Fans vor allem, wenn in der Edition der Briefwechsel zwischen den beiden Autoren veröffentlicht wird. Für zwanzig Jahre nach seinem Tod ließ Frisch diese sperren. Diese sind nun um.
♠ Ingeborg Bachmann: »Male oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Piper Verlag 2017, 272 Seiten, broschiert, 16,- Euro. EAN: 978-3-492-31636-1. ♠