Längst stehen gebliebene Uhren

In der Schweiz der frühen 1970er Jahre betrachtet der namenlos bleibende Erzähler erstmals genauer das Bild seines verstorbenen Vaters. Lange Zeit war das Foto für ihn bloße Dekoration des Zimmers; seit Jahren stand es auf demselben Platz im Bücherregal und gehörte zum selbstverständlichen Inventar. Doch als der Erzähler nun, siebzehnjährig, zu Beginn des Romans vor dem Bild stehen bleibt, verweilt sein Blick ungewohnt lang auf dem Abbild dieses ihm unbekannt gebliebenen Mannes, der sich kurz nach der Geburt des Sohnes umbrachte. Wie zufällig bleiben Blick und Interesse an der Armbanduhr des Fotografierten hängen. Sieben Uhr fünfzehn zeigt diese Uhr an, die der Sohn mithilfe einer Lupe als Omega Seamaster ausmacht. Sieben Uhr fünfzehn – eine ungewöhnliche Zeit für ein professionelles Porträtfoto, sei es morgens oder abends.

Der Sohn wird neugierig. Scheinbar erstmalig in seinem Leben wird ihm bewusst, dass er nie etwas über das Wesen seines Vaters erfahren hat, nie mehr von ihm besessen hat als dieses eine Foto. Seine Mutter hat nur selten etwas über den verstorbenen Vater erzählt. Meist reagierte sie abweisend, die Erinnerungen an ihn hat sie sorgsam weggeschlossen. Die letzten Hinterlassenschaften des Vaters, so hatte die Mutter es dem Sohn erst wenige Wochen vorher offenbart, sind im Laufe der Jahre verloren gegangen.

Aber die Uhr war nicht unter jenen Hinterlassenschaften. Über einen Aufkleber auf der Rückseite des Fotos findet der Sohn heraus, dass der Fotograf André Gros, sein eigener Patenonkel, war. Auch von diesem ist dem Erzähler nicht viel mehr bekannt, als dass er in Paris wohnt oder gewohnt hat und mit dem Vater sehr gut befreundet war. Und dass ihm die Mutter nach dem Tod des Vaters die Omega Seamaster vermacht hat. Und so geschieht zwangsläufig, was geschehen muss: Der Erzähler bricht auf nach Paris – um die Uhr zurückzuholen und um mehr über seinen Vater zu erfahren.

Wer Alain Claude Sulzer aus der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises kennt, weiß, dass er gern betont, wenig mit Lyrik anfangen zu können. Dies wird auch in seiner eigenen Sprache deutlich. Sulzer erzählt in einer wunderbar klaren, unaufgeregten und unverschnörkelten Sprache von der Suche nach der eigenen Familiengeschichte, von Liebe, gesellschaftlichen Konventionen und vom Versuch, sich vom Willen der Eltern und der vorgezeichneten Lebensplanung zu emanzipieren. Nach und nach fügt sich das Bild des Vaters zusammen, seiner eigenen Jugend, seiner Lebensumstände und es enthüllen sich die Gründe, die zu jenem frühen Selbstmord geführt haben. „Zur falschen Zeit“ ist ein spannender, ungemein lesenswerter Roman.

♠ Alain Claude Sulzer: Zur falschen Zeit. Kiepenheuer & Witsch 2012, 240 Seiten, broschiert, 8,99 Euro. ISBN: 978-3462043938 (Jahr der Erstausgabe: 2010). ♠

Merken

Merken

Merken

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Eine kleine Buchkritik. Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert