There’s a new guy in town, he’s been dragging around…

Da sitzt ein Mensch vor ihm, dem namenlosen Protagonisten, und der Protagonist taxiert das Äußere, das Gesicht, kann Alter und Geschlecht zuordnen – aber sonst nichts. Dennoch weiß er, dass dies sein Vater ist – nicht, weil er ihn erkennt, sondern weil er in der Wohnung des Vaters ist. Das liegt nicht etwa daran, dass sie sich schon eine ganze Weile nicht gesehen haben, sondern daran, dass er, der Protagonist, sich keine Gesichter merken kann, weil er bei seiner Geburt zu wenig Luft bekam und ihm so ein Teil des visuellen Erinnerungsvermögens fehlt. So muss er alle Menschen immer wieder neu kennenlernen bis es sich ihm aus dem Kontext erschließt, wer sie sind, bis sie ihm eröffnen, wer sie sind oder bis er seinen Stolz überwindet und nachfragt – was bei Personen, die von seinem fehlenden Erinnerungsvermögen nicht wissen, zu Belustigung, Irritation oder Verärgerung führen kann.

Er sitzt nun seinem Vater gegenüber. Dieser hat einen Revolver bei sich liegen und als er danach gefragt wird, beginnt er, von seinem eigenen Vater, dem Großvater des Protagonisten zu erzählen. Der Großvater, ein eigenbrödlerischer Mensch, lebte in Garopaba, einer Küstenstadt im südlichen Brasilien, hielt sich dort mit Gelegenheitsjobs über Wasser und sorgte mit seinem manchmal hitzigen Gemüt und seinem recht lose sitzenden Messer für die ein oder andere brenzliche Situation. Da viele Bewohner der Stadt ihn, den Gaúcho, nicht ausstehen konnten, vermutet der Vater, dass man ihn umgebracht hat. Und tatsächlich soll es so gewesen sein, dass der Großvater auf einer Feier während eines Stromausfalls von mehreren Leuten erstochen wurde – aber es gab keine Leiche. Eine mysteriöse Geschichte, die nie aufgeklärt werden konnte.

Als er den Vater nun wieder nach dem Revolver fragt, eröffnet dieser ihm, dass er sich am nächsten Tag umbringen werde. Sie diskutieren, er protestiert, aber nach einer Weile wird klar, dass er seinen Vater nicht davon abhalten kann. Als letzte Aufgabe vertraut der Vater ihm seine fünfzehnjährige Hündin Beta an und bittet den Sohn, die Hündin zu einem Bekannten zu bringen, damit dieser sie einschläfert. Es sei, wenn er nicht mehr da wäre, für die Hündin zu qualvoll, ohne ihn weiterzuleben. Der letzte Wunsch des Vaters.

In der nächsten Szene ist es schon geschehen. Der Vater erschoss sich und wurde bereits begraben, der Protagonist hat große Teile seines Hab und Guts aufgegeben und ist auf dem Weg nach Garopaba. Nur eines ist nicht passiert: die Erfüllung des letzten Wunsches. Das Versprechen an den Vater hat er gebrochen, die Hündin bleibt bei ihm und er, der dem eigenen Großvater so ähnelt, zieht in eine fremde Stadt voll von für ihn immer fremd bleibenden Gesichtern. Er, der das Äußere seines Vaters schon längst wieder vergessen hat, genauso wie auch sein eigenes Gesicht, startet neu.

All dies geschieht auf den ersten Seiten des Romans und es leitet eine Sinnsuche, ein Sich-Treiben-Lassen, einen Bericht eines Aussteigers ein. Der Protagonist, der wie sein Vater und sein Großvater namenlos bleibt, zieht nach Garopaba und fängt dort noch einmal von vorn an. Ein wenig versucht er, in der Geschichte zu graben, nach Spuren seines Großvaters zu forschen, aber er merkt, dass er auf Schweigen und Ablehnung stößt und die Bewohner Garopabas an der Vergangenheit nicht interessiert sind. Dennoch lässt ihn der Mythos um seinen Großvater nicht los.

Der Kunstgriff, dass sich der Protagonist keine Gesichter merken kann, könnte Stoff für einen Thriller bieten und gibt der Geschichte ein Gefühl von hintergründiger Verunsicherung. Aber „Flut“ ist kein Thriller, ganz im Gegenteil. Es ist ein eher leiser Roman voll von ersten Begegnungen, von Sinnesbeschreibungen als Ersatz für fehlende Erinnerungen an Gesichter, von der Liebe zu Menschen, die man immer neu entdecken muss, von der Liebe zum Meer und zum Schwimmen, von einem Außenseiter, der seinem Großvater nicht nur äußerlich immer ähnlicher wird. Und wie das Meer, das in diesem Roman eine sehr große Rolle spielt, scheint auch der Erzählrhythmus das gleichmütige, dahintrebende Wogen der Wellen in sich aufgenommen zu haben. Selten braust es auf und es bleibt bei einem steten Wellengang. Dies geschieht sicherlich nicht zum Nachteil des Romans, bei dem es sich im Übrigen lohnt, die ersten Seiten noch einmal zu lesen, sobald man am Ende angekommen ist – in der Rückschau eröffnen sie nach der Geschichte des Großvaters den Blick auf einen neuen Mythos.

♠ Daniel Galera: Flut. Suhrkamp Verlag 2013, 425 Seiten, gebunden, 22,95 Euro. ISBN: 978-3518424094. ♠

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