Von Stecknadeln und Säckelchen

Wer frühzeitig aus dem Leben scheiden möchte, sollte dies nicht mit dem absichtlichen Verschlucken einer, mehrerer oder gar dutzender Stecknadeln forcieren. Denn abgesehen davon, dass es gegebenenfalls zu Unterleibsschmerzen kommen kann, könnte es erstens durchaus passieren, dass der behandelnde Arzt den Lebensmüden für einen Betrüger hält und daher einsperrt, um zu überwachen, ob man wirklich Stecknadeln verzehrt hat, und zweitens könnte es dazu führen, dass der interessierte, behandelnde Mediziner, sobald er von der Wahrhaftigkeit der außergewöhnlichen Nahrung überzeugt wurde, damit beginnt, ein auf die Nadel genaues Protokoll der Ausscheidungen derselbigen anzulegen – und sich um den sonstigen Geisteszustand des Patienten wenig zu scheren.

Dies könnte man zumindest aus dem ersten der sechs medizinischen Fachaufsätze des Darmstädter Arztes Ernst Büchner ableiten. Die zwischen 1823 und 1826 verfassten Dokumente wurden seinerzeit in den wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht und nun gesammelt vom Insel Verlag herausgegeben. Neben der bereits geschilderten Problematik einer Patientin, zum versuchten Selbstmord 44 Stecknadeln verschluckt, ohne dabei jedoch die gewünschte Wirkung erlangt zu haben, finden sich Abhandlungen über Schlafwandeln, Blutschwämmchen, die Tollwut, den Tripper – und die „Beobachtung einer glücklich abgelaufenen Selbst-Entmannung“.

Ernst Büchner, 1786 geboren, ist der Vater des Schriftstellers Georg Büchner und auf den ersten Blick mag die vorliegende Textsammlung durch diese Beziehung gerade aufgrund möglicher literarischer Bezüge des Sohnes auf die medizinischen Schriften seines Vaters interessant sein. Denn dem Sohn waren die Abhandlungen des Vaters in jedem Fall bekannt. Doch nachzuweisende Rückbezüge des Sohnes auf das Werk seines Vaters bleiben spärlich und so ist der vorliegende Band vielmehr in medizin- und gesellschaftsgeschichtlicher Hinsicht aufschlussreich. Auch Pharmazeuten könnten sich hier und dort erfreuen, wenn der Arzt beispielsweise seiner Stecknadel-Patientin Pillen nach der Formel „Rc. Pulv. rad. rhei, Sap. venet. aa. Ziß, fell. tauri insp ⅔ j. m. f. pil. gr. ij. consp. pulver. liquir. d. ad Seat. s.“ verschreibt. Noch viel mehr geht aber sprachkünstlerisch interessierten Lesern wahrlich das Herz über, liest man Büchners kunstvoll verstrickte Schachtelsätze, vor denen die vorliegenden Berichte nur so strotzen. Eines der kürzeren Beispiele:

„Ein Edelmann von 20 Jahren, der an periodischer Verwirrung des Verstandes litt, außerdem aber völlig gesund war, hatte, nachdem ihm ein Versuch, sich durch einen Selbstschuß, wobei er sich bloß eine schwere Kopfverletzung verursachte, das Leben zu rauben, verunglückt war, eingestanden, daß er schon seit mehreren Wochen verschiedene Dinge, als: Glas, Eisen, Nadeln, Knöpfe, Schnallen, einen Teller voll neuer Nägel, zwei Zoll in der Länge, und eine große Menge Tabaksöl ohne alle Absicht verschluckt habe, und klagte dabei doch nur wenige Leib- und Magenschmerzen.“

Dieser Satz ist auch ein gutes Beispiel für die sehr lesenswerten, von Büchner stets angeführten ähnlichen Fälle. Denn um seine eigenen Beobachtungen und Erkenntnisse zu belegen, führt er stets weitere ihm bekannte Fälle mit ähnlichen Symptomatiken auf. So lesen wir unter anderem von acht verschiedenen Tripper-Patienten und ihren ganz unterschiedlichen, zur Erkrankung geführt habenden Umständen des Beischlafs (liegend, stehend, im Freien, in vollem Genuss des Aktes oder auch kurzfristig unterbrochen „wegen plötzlichem Abscheu“ gegen die „liederliche Weibsperson“), von schlafwandelnden Mördern und diversen, sich selbst entmannt habenden Kastraten.

Spannend ist bei all den vorliegenden Fällen die wissenschaftliche Akribie Büchners, die bis ins Grenzwertige reicht. So findet er es richtiggehend bedauernswert, dass seine Stecknadeln essende Patientin Catharina D., die er auch gern einmal lapidar als „Gegenstand“ bezeichnet, zum Schluss seines Berichts genesen und nicht weiter in seiner Behandlung befindlich ist. Um seine These der unterschiedlichen Verdauungsprozesse von Näh- und Stecknadeln zu belegen, schafft sich Büchner kurzerhand einen Hund an, dem er tagelang verschiedene Nadeln ins Futter mischt. Im ersten Teil seiner Versuchsreihe führt er dabei über die vom Hund wieder ausgeschiedenen Nadelanzahlen ein genaues Tagebuch. Wäre dies nicht bereits fragwürdig genug, erschlägt er den Hund später und schneidet ihn umgehend auf, um die Reise der verbleibenden Nadeln im Inneren des Hundes nachvollziehen zu können. Büchner schließt seinen Stecknadelbericht im Übrigen mit seiner Hoffnung darauf, Catharina D. irgendwann einmal auf dem Obduktionstisch vor sich liegen zu haben, um auch ihn ihre Innereien einen genaueren Blick haben zu können.

Dass Georg Büchner seinen Protagonisten Woyzeck mit einer aus Erbsen bestehenden Monodiät foltern lässt, scheint der einzige einigermaßen wahrscheinliche Rückbezug auf die vorliegenden wissenschaftlichen Texte seines Vaters zu sein. Denn der wissenschaftliche Eifer von Woyzecks behandelndem Arzt lässt einen überzeichneten Ernst Büchner vermuten, wenn jener Doktor ausruft: „Hat Er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck? Nichts als Erbsen, Cruciferae, merk‘ Er sich’s! […] Woyzeck, muss Er nicht wieder pissen? Geh‘ Er einmal hinein und probier‘ Er’s!“

Weitere greifbare Rückschlüsse auf Georg Büchners literarisches Werk bleiben jedoch aus. Vielmehr sind die vorliegenden Aufsätze ein teils erheiterndes, teils skurriles Stück Medizingeschichte, ganz unabhängig davon, ob man mit dem literarischen Schaffen des Sohnes vertraut ist oder nicht. Wer also – insbesondere von der männlichen Leserschaft – vor detaillierten Berichten von Geschlechtskrankheiten und Selbstkastrationen nicht zurückschreckt, dem sei „Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln“ als lesenswerter Einblick in fast zweihundert Jahre alte ärztliche Praktiken empfohlen. Und auch wahrlich jeder Schachtelsatzverehrer wird in Ernst Büchners Berichten auf seine Kosten kommen. Nur ist er ein wenig mit Vorsicht zu genießen, jener Arzt, der seine Patientin lieber einsperrt und ausgeschiedene Stecknadeln zählt, anstatt ihr mit Rat und Hilfe beiseite zu stehen und vor weiteren Suizidversuchen zu bewahren. Und teils mag er in seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch recht forsch erscheinen, wenn er etwa konstatiert, dass übermäßige Onanie dazu verleitet, sich „das Säckelchen samt den beiden Eiern“ abschneiden zu wollen. Denn für Büchner ist klar: die Fallbeispiele beweisen dies ganz eindeutig.

♠ Ernst Büchner: Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln. Hrsg. von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Insel Verlag 2013, 135 Seiten, gebunden, 14,95 Euro. ISBN: 978-3458193722. ♠

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