Bin mal eben AFK

Patrick ist 17 und verschwindet in den Ferien und nach der Schule für den Großteil seiner Freizeit in der virtuellen Welt eines Onlinespiels. Wie in Onlinespielen so üblich, kämpft er dort mit einem seinem Alter Ego – in diesem Fall einer Zornelfenzauberin namens Pocahonta – gegen Drachen, Dämonen und ähnliche Schergen. Seinem Vater Henner passt das gar nicht. Er hat einen regelrechten Hass auf das Spiel entwickelt, das ihm nach Henners Ansicht seinen Sohn weggenommen hat.
Für Patrick ist das Spiel eine Ablenkung. Sein Charakter Pocahonta ist meist mit dem Barbaren Mr. Smith unterwegs, hinter dem sich die ebenfalls 17-jährige Spielerin Nevena aus Belgrad verbirgt. Beide schreiben viel miteinander, außerhalb des Chats haben sie sich bereits hunderte von E-Mails geschrieben. Begonnen hat dies vor knapp zwei Jahren, als Patricks Mutter Astrid im Sterben lag. Den Kampf gegen den Krebs hat Astrid irgendwann verloren – allein die Ablenkung durch das Spiel blieb für Patrick zurück.
Seitdem sie abwechselnd für die erkrankte Astrid sorgen mussten, verlief die Kommunikation zwischen Henner und Patrick nur noch zweckdienlich. Es wurde geplant, wer wann für was zu sorgen hatte und daran wurde sich gehalten. Und auch nach dem Tod der Mutter ist die Kommunikation zwischen Patrick und seinem Vater rudimentär geblieben. Patrick loggt sich ein und sein Vater Henner hasst das Spiel dafür. Aber aussprechen kann er es nicht. Stattdessen schämt Henner sich manchmal für Patrick und wünscht sich einen Sohn, der mit ihm in die Disco geht oder andere, spontane Dinge in der realen Welt unternimmt.

Vater und Sohn leben im selben Haus parallel und aneinander vorbei. Henner arbeitet in einem Museum und restauriert zu Hause alte Möbelstücke. Vor Kurzem hat er inseriert, dass er den alten Wohnwagen seiner Frau verkaufen will, und lotst gerade Kaufinteressenten durch den voll funktionstüchtigen Oldtimer, als er ein Angebot eines reichen Italieners aus Triest bekommt, eine Antiquität auf Echtheit und Wert zu prüfen. Zeitgleich verschwindet in Patricks Onlinespiel Nevena, deren Alter Ego Mr. Smith sich mitten im Kampf in Luft auflöst und nicht mehr auftaucht – tagelang. Patrick macht sich Sorgen, da Nevena noch nie ohne jede Nachricht für längere Zeit verschwunden war. Er durchstöbert ihre E-Mails auf der Suche nach persönlichen Angaben, mit denen er sie suchen kann, stellt aber fest, dass er noch nicht einmal ihren Nachnamen kennt. Zwar erzählt Nevena ständig von ihrer großen, chaotischen Familie, schreibt aber nie konkrete Namen oder Daten. Lediglich der Hinweis auf einen Kellner im kroatischen Ferienort Opatija, in dem Nevena häufig Urlaub macht, ist ein kleiner Hinweis, ein dünner Strohhalm Realität. Patrick erzählt Henner von seinen Sorgen und gemeinsam beschließen sie, nach Triest aufzubrechen, die Antiquität zu untersuchen und danach einen Umweg in das nur knapp einhundert Kilometer entfernte Opatija zu unternehmen und nach dem Verbleib von Nevena zu forschen – eine Reise, die sie im alten Wohnmobil tausende Kilometer weit und quer durch das ehemalige Jugoslawien führen wird.

Der Roman ist ein klassischer Roadtrip, der von dem Versuch erzählt, eine Verbindung zwischen der virtuellen und der realen Welt und eine Brücke zwischen Vater und Sohn herzustellen. Wer an eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Spielsucht-Thematik denkt, liegt hier jedoch falsch. Vielmehr wird nach Antreten der Reise nach Triest und Opatija die Schilderung der aktuellen Situation der Menschen im Balkan nach den Jugoslawienkriegen in den Vordergrund gestellt, stets verknüpft mit der Suche nach Nevena und ihrer wahren Identität. Spinnens Darstellung gibt einen Einblick in die Mischung aus Aufbruchsstimmung und Frustration in den Balkanstaaten, spiegelt die Schönheit dieser Staaten ebenso wider wie die noch immer sichtbaren Folgen des Krieges durch Zerstörung, Flucht und spätere Wiedereinwanderung.

Während Henners Betrachtungen der Reise dadurch sehr authentisch wirken, werden Patricks Schilderungen, die sich in der Erzählung stetig mit Henners abwechseln, ständig durch Impressionen aus seinem Onlinespiel unterbrochen. Anfangs mag man noch denken, dass das wohl normal ist, wenn man sich vom Computer losgeeist hat und sich nun auf einer Tour quer durch Europa befindet. Unterhaltsam sind die eher ironisch überhöhten Hinweise auf das Onlinespiel, wie die „hitzeresistenten Frosthandschuhe des Winterzorns“, deren Augenzwinkern kaum zu überlesen ist. Aber irgendwann werden die stetigen Vergleiche mit dem Spiel geradezu nervtötend. Patrick denkt bei im Wind klappernden Fahnenmasten an eine geeignete Hintergrundmusik für eine Spielszene. Während er in Triest von einem Raum zum nächsten schreitet, denkt er, dass kein Levelwechsel dramatischer sein könnte. An manch einer Stelle schlägt sein Herz so schnell wie damals als er im Spiel … – und es folgt ein Vergleich mit einer Kampfszene. Natürlich hat er die Intro-Musik des Spiels als Klingelton, manchmal will er, tausende Kilometer von seinem Computer entfernt, unwillkürlich die Actiontaste drücken und die Menschen um ihn herum benehmen sich wie seine persönlichen Questgeber.
Wenn diese ständigen Anklänge an das Spiel den Gamer Patrick realistischer erscheinen lassen sollen, so klappt das nicht ganz. An vollkommen unerwarteten Stellen bricht Patrick plötzlich aus dem „real life“ aus und kommt mit einem Spielvergleich daher und spannende oder stimmige Handlungsverläufe werden dadurch in abstruser Weise unterbrochen. Da hilft es auch nicht viel, wenn man erst im Nachsatz zum Roman Spinnens Anmerkung liest, dass er „die Erscheinungsform und die ‚Grammatik‘ des Spiels den Erfordernissen der Geschichte angepasst“ hat.
Dementsprechend ist „Nevena“ durch die Thematisierung des Balkans interessant, steht sich an vielen Stellen durch den Handlungsstrang „Onlinespiel“ aber selbst im Weg. Wahrscheinlich ist es für Leser, die mit Onlinespielen nichts oder nicht viel anfangen können, umso interessanter, aber selbst für Casual-Gamer sei hier Vorsicht vor gelegentlichem facepalm geboten. Zwinkersmily.

♠ Burkhard Spinnen: Nevena. Schöffling & Co. 2012, 320 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. ISBN: 978-3895610448 ♠

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