Das Haus, das Verrückte macht

Nicht selten bringen einen Bücher um den Schlaf, brennt die Leselampe länger als eigentlich geplant, wacht man morgens auf, ärgert sich über die kurze Nacht und freut sich dennoch gleichzeitig über das Gelesene. Und: Manche Bücher sind heimtückisch. Sie haben beispielsweise einen Autor, dessen Name allein bereits Gutes verheißt und der wegen seiner famosen Texte große Erwartungen weckt. Sie sehen ganz unscheinbar aus, der Klappentext verrät nicht allzu viel und der Titel wirkt beliebig, könnte alles bedeuten. Man fängt an zu lesen, versinkt von Seite zu Seite tiefer in der Geschichte, wird dann plötzlich von einem Genre überrascht, mit dem man wirklich nicht gerechnet hätte und muss weiterlesen und durchhalten und weiterblättern und zu Ende lesen, weil an ein Weglegen des Buches und an Schlaf gar nicht zu denken wäre.

„Du hättest gehen sollen“ ist eines dieser Bücher. Der Autorenname, Daniel Kehlmann, lässt unmittelbar an „Die Vermessung der Welt“ denken, verheißt Großes. Der Klappentext bleibt vage, das Cover ist völlig austauschbar, der Titel ganz harmlos. „Du hättest gehen sollen“. Könnte alles sein. Aber.

Die Grundlage der Erzählung bildet das Notizbuch eines namenlos bleibenden Drehbuchautors. Mit einer Komödie namens Allerbeste Freundin hatte er großen Erfolg und hat sich nun, begleitet von seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter, via AirBnB in einem Haus weit oben in der Einöde namenloser Berge eingemietet, um an einer Fortsetzung dieses scheinbar völlig anspruchsfreien Films zu arbeiten. Die Ideenschnippsel, die ihm dabei in den Sinn kommen und die er beflissen in sein Notizbuch schreibt, lassen an möglichen Blockbuster-Qualitäten von Allerbeste Freundin II stark zweifeln. Hier und da schreibt er einen Satz nicht zu Ende, fängt neue an, testet Formulierungen aus und dokumentiert nebenbei, was um ihn herum und in dem Haus auf der Alm passiert.

Gerade hat die Sonne sich hinter der Wolke hervorgeschoben, sodass der Himmel nun in schmerzhafter, gleißender, herrlicher Helligkeit zerrinnt.

Oder sind das zu viele Metaphern? […] Aber in schmerzhafter, gleißender, herrlicher Helligkeit, nicht schlecht.

– Äh, doch.

Im Notizbuch dokumentiert er neben seinen schlechten Plotideen auch die kleineren und größeren Streitereien mit seiner Frau, das muntere Geplapper der Tochter, den Alptraum der ersten Nacht im Ferienhaus und schließlich die erste Fahrt hinunter ins Dorf, viele Serpentinen weit nach unten, wo er in einem winzigen Laden seine Einkäufe macht und vom Ladeninhaber auf merkwürdige Art und Weise nach seiner Unterkunft oben auf dem Berg ausgehorcht wird. „Schon was passiert?“ Die einzige Kundin, die mit ihm einkauft, warnt ihn, schnell wegzugehen. Er ist irritiert, fragt nach, bekommt keine Antwort, schiebt es auf den starken Dialekt der Frau und geht davon aus, sich einfach verhört zu haben.

Wieder oben auf dem Berg angekommen, beginnen die Dinge, seltsam zu werden: Das Haus hat plötzlich mehr Räume, die er vorher gar nicht gesehen hatte. An den Wänden hängen Bilder, die vorher nicht dort waren. Wände sind weiß und ohne Nagel, an denen vorher definitiv Bilder hingen. Er hat Alpträume. Und sein Spiegelbild fehlt plötzlich und ist dann wieder da. Auch wenn er es sich direkt nach dem Schreiben selbst schon nicht mehr glaubt, versucht er, die Geschehnisse so gut es geht in seinem Notizbuch festzuhalten:

Jetzt habe ich
Ich muss das abschreiben.
Aber schnell, bevor

Und zehn Seiten später:

Ich muss es aufschreiben, um nicht verrückt zu werden.

Immer mehr Sätze werden nun nicht mehr beendet, immer besorgter, verwirrter, panischer wird der Schreiber, während die Handlung immer schneller und abgründiger die einsamen Berghänge hinabtrudelt.

Daniel Kehlmann spielt in „Du hättest gehen sollen“ gekonnt mit altbekannten Motiven des subtilen Horrors, die man aus diversen Genrefilmen kennt, von Shining über Cube bis Paranormal Activity. Die Stilmittel sind nicht neu, werden in der kurzen, keine 100 Seiten langen Erzählung aber gekonnt genutzt und schaffen so eine dichte, fesselnde Atmosphäre, die bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt. Selten war ein Lesebändchen so überflüssig wie an diesem Buch – man kann es ja sowieso nicht aus der Hand legen.

♠ Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen. Rowohlt 2016, 96 Seiten, gebunden, 15,- Euro. ISBN: 978-3498035730. ♠

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Eine kleine Buchkritik. Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert