Selfies aus der Todeszone

Sie ist schon eine besondere Person, die Baba Dunja. Selbstdiszipliniert und genügsam, ein wenig streng, aber dennoch gutmütig, lebt sie in einem Ort ohne Zukunft: in Tschernowo. Nachdem vor dreißig Jahren eine Reaktorkatastrophe das Land verseuchte, floh Baba Dunja gezwungenermaßen in die nächstgrößere Stadt, hielt es dort aber nicht allzu lange aus. Seit knappen 18 Jahren ist sie zurück in der Todeszone, ignoriert sämtliche Warnungen und Bitten ihrer nach Deutschland ausgewanderten Tochter, sie möge doch aus dem verstrahlten Gebiet wegziehen, und führt in der Abgeschiedenheit Tschernowos ein ruhiges, geradezu aus der Zeit gefallenes Leben. Sie ist zufrieden damit und genügsam mit dem wenigen, das sie hat. Hauptsächlich versorgt sie sich aus dem eigenen Garten, nur alle paar Wochen oder Monate, wenn es gar nicht anders geht, nimmt die über 80-Jährige die stundenlange Reise in die nächstgelegene Stadt auf sich, um notwendige Besorgungen zu machen. Baba Dunja mag diese Ausflüge nicht im Geringsten. Nur im von der Außenwelt abgeschotteten Tschernowo fühlt sie zu Hause, fühlt sie sich glücklich.

Sie war die Erste, die zurückkam. Eine Handvoll Menschen tat es ihr später gleich und seit einigen Jahren bewohnt somit eine gleichzeitig distanziert-eigenbrötlerische wie auch in der Abgeschiedenheit eng zusammengeschweißte Dorfgemeinschaft einige wenige Häuser der Geisterstadt Tschernowo. Als Erste, die zurückzog in die Todeszone, ist Baba Dunja außerhalb von Tschernowo eine Prominente. Das kümmert sie allerdings wenig. Alle paar Monate besuchen Fotografen, Reporter oder Biologen die Todeszone, wandeln in Schutzanzügen umher – doch Baba Dunja und die anderen Einwohner Tschernowos nehmen kaum Notiz von ihnen. Sie alle sind schon längst alt und gebrechlich, allesamt sind sie dem Trubel der restlichen Welt entrückt und genießen die trügerische Idylle der verstrahlten Abgeschiedenheit – bis ein Fremder mit einem kleinen Mädchen in die radioaktive Todeszone kommt.

Ähnlich wie in „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ setzt Alina Bronsky im nun als Taschenbuch erschienenen Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ eine spleenige, betagte Dame als Ich-Erzählerin ein, deren pragmatische Einstellung zum Leben den humorvollen Erzählstil prägt. Nur scheinbar bleiben Baba Dunjas Betrachtungen oberflächlich und alltagsbezogen, kunstvoll spielt die Autorin immer wieder auf die heiklen Themen an, von der Reaktorkatastrophe über die Tragik einer Familiengeschichte bis hin zur politischen Situation zwischen der Ukraine und Russland. Dass das Gebiet, auf dem der fiktive Ort Tschernowo steht, auf viele Jahrzehnte hin verstrahlt bleiben wird, ist Baba Dunja egal. Anstatt besorgt zu sein, freuen sich die Dorfbewohner über überdurchschnittlich großes Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Die allgegenwärtige Strahlung bedeutet Baba Dunja nichts – zumindest nicht bezogen auf ihr eigenes Leben.

Ich habe alles gesehen und vor nichts mehr Angst. Der Tod kann kommen, aber bitte höflich.

Nur die Toten, die überall wandeln, erinnern durch ihre Anwesenheit immer wieder an die Katastrophe. Aber auch sie gehören für Baba Dunja wie selbstverständlich dazu.

Das mit dem Himmel habe ich nur so gesagt. Ich glaube nicht daran. Das heißt, ich glaube schon an einen Himmel, der über unseren Köpfen ist, aber ich weiß, dass unsere Toten nicht dort sind. […] Unsere Toten sind unter uns, oft wissen sie nicht einmal, dass sie tot sind und dass ihre Körper in der Erde verrotten.

So stehen sie also am Gartenzaun, sitzen im Wohnzimmer, gehen über die Straße, mal schweigend, mal sprechend. Für Baba Dunja sind sie gleichrangige Bewohner Tschernowos.

Ein wenig erscheint Baba Dunja wie das Klischeebild der strengen und genügsamen Großmutter, das Paradebeispiel einer etwas schnodderigen, abgeklärten Oma, unbelehrbar und abgehärtet. Dennoch hat man sie direkt ins Herz geschlossen, sobald ihr auf den ersten Seiten der nervtötende Hahn der Nachbarin tot vor die Füße kippt. Ihre Abkehr von der technisierten, schnellen Außenwelt ist wohltuend – und auf eine schräge Art und Weise wird nachvollziehbar, dass sie sich lieber von dem Trubel abwendet und zurück in die verstrahlte Todeszone zieht.

Was ich in Tschernowo niemals gegen fließend Wasser und eine Telefonleitung eintauschen würde, ist die Sache mit der Zeit. Bei uns gibt es keine Zeit. […] Zwischendrin vergessen wir, dass es noch die andere Welt gibt, in der die Uhren schneller gehen und wo alle schreckliche Angst vor dieser Erde haben, die uns ernährt. Diese Angst sitzt tief in den anderen Menschen, und die Begegnung mit uns bringt sie an die Oberfläche.

Trifft die ängstliche, im Gegenzug aber internetverseuchte Instagram-Außenwelt dann plötzlich auf die bodenständige Baba Dunja, um schnell ein verstrahltes Selfie zu machen, wird die Todeszone plötzlich ungemein attraktiv. Einer von vielen Kunstgriffen in „Baba Dunjas letzte Liebe“, der Alina Bronksy unheimlich gut gelingt.

♠ Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Kiepenheuer & Witsch 2017, 160 Seiten, broschiert, 8,- Euro. ISBN: 978-3462050288. (Jahr der Erstausgabe: 2015.) ♠

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