Ein völlig überdrehtes Jahr – und ein Igel namens Rilke

Was ein Buch – was ein Jahr. Rainer Maria Rilke hat Schnupfen, Thomas Mann ärgert sich über Sitzfalten am Anzug und Franz Kafka erprobt das schriftliche Stammeln. Wir sind im Jahr 1913, im Buch „1913“, in dem Florian Illies das Jahr vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs abbildet, unterteilt in die zwölf Monate des Kalenders.

Es war ein Jahr, das die Schwelle zur Moderne gerade überschritten hatte. Was sind die treibenden kulturellen Kräfte dieses Jahres? Welche großen Werke, Geschehnisse, Skandale haben es geprägt? Ohne sich die Beantwortung konkret zum Ziel gesetzt zu haben, geht Florian Illies genau diesen Fragen nach, indem er die bedeutendsten Vertreter der Zünfte selbst sprechen und agieren lässt, ständig zwischen den Orten, Personen und Kunstszenen hin- und herspringend.

Vom 12-jährigen Louis Armstrong, der gerade in eine Besserungsanstalt gesteckt wird, springt Illies zum Liebesbriefe schreibenden Franz Kafka, um sich dann, jeweils nur kurze Absätze später, weiter zu Stalin, Freud und Rilke zu hangeln. Mit dem humorvollen Unterton des über alle Biografien Erhabenen, der einhundert Jahre später genau weiß, welchen Lauf die Geschichte nach dem Jahr 1913 nahm, porträtiert er zahlreiche Künstlerbiografien und verknüpft sie miteinander. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei zweifelsohne auf der Kulturgeschichte – politische Entwicklungen werden, wie auch Trivia zu sonstigen Themen (seien es Modetipps oder die Eröffnung des ersten Aldi-Marktes) sporadisch eingestreut. Die große Bühne aber gehört der – vornehmlich europäischen – Kunst- und Literaturgeschichte. Illies erschafft so das brillant gelungene Abbild einer schaffenswütigen und umtriebigen Kunstszene.

Wien strotzte vor Kraft, war eine Weltstadt geworden, was man in der ganzen Welt sah und spürte, nur in Wien selbst nicht, dort hatte man vor lauter Lust an der eigenen Selbstvernichtung übersehen, dass man unversehens an die Spitze der Bewegung gerückt war, die sich Moderne nannte.

Während Oskar Kokoschka vor Eifersucht in Raserei gerät, kündigt ein gekränkter Sigmund Freud seinem ehemaligen Schüler C.G. Jung postalisch den Kontakt auf („Wer aber bei abnormen Benehmen unaufhörlich schreit, er sei normal, erweckt den Verdacht, dass ihm die Krankheitseinsicht fehlt. Ich schlage Ihnen also vor, dass wir unsere privaten Beziehungen überhaupt aufgeben.“). Franz Kafka wird von Selbstzweifeln zermartert, der 15-jährige Bertolt Brecht veröffentlicht seine eigene Schülerzeitung, Gottfried Benn hat keine Lust mehr auf Leichenseziererei und Rainer Maria Rilke möchte sich zusammenrollen und ein Igel sein.

So prallen Ernst und Anekdote unmittelbar aufeinander. Illies‘ Quellen sind Tagebucheinträge, Briefwechsel, Biografien, Zeitungsberichte und dergleichen, die er mit einer kleinen Prise eigener Was-wäre-wenn-Fiktion garniert:

Stalin geht durch den Park, denkt nach, es dämmert schon. Da kommt ihm ein anderer Spaziergänger entgegen, 23 Jahre alt, ein gescheiterter Maler, dem die Akademie die Aufnahme verweigerte und der nun die Zeit totschlägt im Männerwohnheim in der Meldemannstraße. Er wartet, wie Stalin, auf seine große Chance. Sein Name ist Adolf Hitler. Vielleicht haben sich die beiden, von denen ihre Bekannten aus dieser Zeit erzählten, dass sie beide gerne im Park von Schönbrunn spazieren gingen, einmal höflich gegrüßt und den Hut gelüpft […].

Vielleicht. Später sinniert Illies darüber, wie die stolzen Eltern Friedrich und Franziska Braun ihr sechs Monate altes Töchterchen Eva im Kinderwagen durch München spazieren fahren, während der nun 24-jährige erfolglose Maler Hitler im Mai just in dieselbe Stadt zieht.

Mit kuriosesten Fakten aus den unterschiedlichen Lebensläufen versehen, blickt „1913“ auf die nach vorn treibende künstlerische Avantgarde, auf Kubismus, Futurismus, Expressionismus, auf erste literarische Gehversuche wie auf etablierte Meister ihres Fachs, auf Schaffenskrisen und wechselnde Gesundheits- und Gemütszustände. Nicht zuletzt durch Illies‘ humoristisches Erzähltalent wirkt es manchmal fast, als sei die intellektuelle Avantgarde des Jahrs 1913 die meiste Zeit entweder verkorkst, depressiv, verkopft oder einfach völlig kopflos durch die Weltgeschichte gerannt. Zeitgleich ist „1913“ aber auch eine tiefe Verbeugung vor der Kunst, der Literatur, dem Theater, der Musik dieser Epoche.

Wie in einem Kaleidoskop tanzen die verschiedensten Biografien umeinander, vermengen sich, überschneiden sich, verbinden sich zu einem grandiosen Gesamtkunstwerk. „1913“ macht Lust auf mehr, auf die Romane, die Bilder, die Filme, die Musik dieser Zeit, die Briefwechsel, die Tagebücher, die Biografien. – Hinten angefügt winken fünf verheißungsvolle Seiten kleingedruckter Auswahlbibliografie. Das könnte teuer werden. Das könnte sich lohnen. Eines zumindest steht fest: „1913“ lohnt sich in jedem Fall.

Es ist ein völlig überdrehtes Jahr. Kein Wunder also, dass der russische Pilot Pjotr Nikolajewitsch Nesterow mit seinem Kampfflugzeug 1913 den ersten Looping der Menschheitsgeschichte flog.

Würde Illies doch nur das gesamte 20. Jahrhundert durchbiografieren.

♠ Florian Illies: 1913: Der Sommer des Jahrhunderts. S. Fischer 2012, 320 Seiten, gebunden, 12,- Euro. ISBN: 978-3596520534 / Taschenbuch, 10,99 Euro. ISBN: 978-3596193240. ♠

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