Wir atmen nicht.

Auf zwei etwas abgeschieden liegenden Höfen in der wohl polnischen Provinz wird eine Familie Opfer der Pogrome des Zweiten Weltkriegs. Sie erlebt, wie sich die ehemaligen Nachbarn und Freunde der Familie gegen sie wenden, wie ein Misstrauen, das seit längerem schon gewachsen ist, umschlägt in blinden Hass und in Gewalt, sobald die politischen Rahmenbedingungen dies möglich machen.

Der Roman „Nahe Jedenew“ beginnt mittendrin, mit den drei Worten Wir atmen nicht. „Wir“, das sind vor allem zwei sechzehnjährige Mädchen, Schwestern, die in der Nacht, in der die Jedenewer Bauern kommen, in ihr Baumhaus in der Nähe der zwei Höfe flüchten. Von dort aus sehen sie zu, wie die Bauern und Soldaten das eine Haus plündern und das andere Haus abbrennen. Sie sind der Mittelpunkt dieses nur knapp 140 Seiten langen Romans, sind das Zentrum des Taumelns zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das diesen Roman ausmacht: Wie in einem Delirium, in dem sich keines der Mädchen eingestehen will, was gerade passiert, fallen beide immer wieder zurück in Erinnerungen aus den vergangenen Sommern, den vergangenen Wintern, den vergangenen Wochen und Tagen, dem vergangenen Abend, an dem alles noch in Ordnung zu sein schien, an dem die Familie noch vollzählig, die Fenster noch nicht zersprungen, der Hof noch nicht verbrannt war.

Gegenwart und Vergangenheit fließen in den teils viele Zeilen langen Sätzen ineinander, kreisen immer wieder um die gleichen Gedanken und Erinnerungen. Durch die stetigen Wiederholungen einzelner Satzteile oder ganzer Sätze verdeutlicht sich das Panikgefühl der beiden Mädchen, verdichtet sich die bedrohliche Atmosphäre, in der sich die beiden befinden und sich zurück in alte, unbefangene Zeiten sehnen. Die Zeiten fließen mitten im Satz ineinander und durch den konstanten Gebrauch des Präsens verschwimmt alles zu einer einzigen Zeitebene, in der Vergangenes und Gegenwärtiges parallel zueinander zu existieren scheinen. Nach und nach werden dabei immer neue Fragmente freigelegt, die die abgründige Situation immer deutlicher hervortreten lassen.

Nachts klirren die Fenster in der Küche, dann klirrt jedes einzelne Fenster im Haus. Abends sitzen wir hinterm Haus in der Hochsommerabendsonne auf dem schmalen Holzsteg, der auf den Teich hinterm Haus hinausführt, und sitzen und liegen und schwimmen in der Sonne und sitzen lesend zusammen und trinken die erste und letzte Sommerbowle des Jahres, schwimmen und bespritzen uns gegenseitig mit Wasser, nachts hocken wir in Badeanzügen in die Speisekammer gedrängt.

In der Gedankenwelt der beiden Mädchen befindet sich der Leser mitten im Trauma. Er sieht mit an, wie die Jedenewer Bauern die Tante und die kleine Nichte der beiden Mädchen im Teich ertränken, er erahnt die anderen Gräueltaten, aber er wird mitgewirbelt vom Strudel des Ausblendens, des Überblendens in friedliche, schönere Zeiten.

„Nahe Jedenew“ ist auf seinen wenigen Seiten ein unglaublich sprachgewaltiges Stück Prosa, das mit einem kleinen Fragment, dem Losbrechen der Pogrome gegen jüdische Mitbürger in Polen, eindringlich widerspiegelt, welche Leiden Krieg und Verfolgung, welche Leiden Menschen über andere Menschen bringen können. Durch Anspielungen auf jiddische wie auch katholische Traditionen porträtiert Vennemann eine Familie, die im Sog der Zeit versucht, sich religiös und kulturell zu verorten, die in den lauten Umbrüchen der Gesellschaft in ihren eigenen Traditionen immer leiser werden muss. Durch das „Wir“ der zwei Protagonistinnen erzeugt er ein Kollektiv, das ratlos auf die Geschehnisse schaut, das von den Ereignissen der Geschichte rücksichtslos und brutal überrannt wird. Er zeigt auf, wie Menschen politische Umbrüche für eine willkürliche, eigennützige Tabula Rasa nutzen, wie niedere Beweggründe wie Rache, Misstrauen und Geldschulden in blindem und brutalem Hass gipfeln. Die Schilderung der Geschehnisse aus der Sicht zweier sechzehnjähriger Mädchen, die mit den politischen Umwälzungen rein gar nichts zu tun haben, die sich in die heile Vergangenheit zurücksehen und die mit Veränderungen in ihrem Leben grundsätzlich noch nie gut umgehen konnten, macht den Roman nur umso eindringlicher. Ein furioses Stück Literatur.

♠ Kevin Vennemann: Nahe Jedenew. Suhrkamp 2005, 144 Seiten, broschiert, 8,- Euro. ISBN: 978-3518124505. ♠

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