Im Jahr 1568 entstand in den Niederlanden ein Bild des Malers Pieter Bruegel der Ältere mit dem Namen „Der Blindensturz“. Zu sehen sind sechs Männer im mittleren Lebensalter, die, allesamt in einer Menschenkette aufgereiht, sich aneinander festhalten und der Reihe nach hinzufallen drohen. Der erste Mann in der Reihe, scheinbar der Anführer, liegt schon gefallen im Bach, der zweite stürzt gerade, die anderen vier werden hinterhergezogen. Bei vier der sechs Männer sieht man es genau, bei den zwei anderen lässt es sich vermuten: Die Männer sind blind.
Um dieses Gemälde spinnt Gert Hofmann seine wie das Bild betitelte Erzählung „Der Blindensturz“. Durchgehend in der zweiten Person Plural geschrieben, wird von der mühsamen Prozedur der blinden Männer, am Tag des Maltermins den Weg zum Haus des Künstlers zu finden und vom Malen des Bildes selbst berichtet. Dabei stellt sich eines ganz deutlich heraus: dass jene, die sich in nichts auf der Welt wirklich sicher sein können, da sie es nicht sehen, sich auch auf niemanden verlassen können. Wie in einer Irrfahrt werden die Männer von einem Ort zum nächsten geschickt, müssen sich auf die Aussagen derjenigen verlassen, auf die sie treffen, nur um doch wieder in die falsche Richtung geschickt zu werden – wegen der Gleichgültigkeit jener, die sehen können und sich nicht um das Schicksal der blinden Bettler kümmern. Wie ein willenloser Spielball gelangen sie von Person zu Person, stolpern und kriechen vorwärts in der Hoffnung, irgendwann doch noch das Haus des Malers zu erreichen.
Und dann, weil wir nicht sicher sind, ob Balthasar noch bei uns ist, rufen wir: He, Balthasar, bist du noch hier? Aber Balthasar antwortet nicht, wir sind also wohl alleine. Trotzdem immer wieder das Gefühl, dass uns einer sieht, einer, der schweigt, von schräg oben. Deshalb fassen wir uns wieder bei den Händen und rufen: He, schaut uns jemand an? Aber bis auf die Geräusche der Luft und der Erde und die, die wir selbst machen (mit unseren Herzen, unseren Lungen, unseren Kehlen, unserem Mund), ist alles still um uns.
Gert Hofmann schafft vor allem durch die Wir-Perspektive und die besonders gelungene Darstellung der Orientierungslosigkeit der Männer ein sehr eingehendes Porträt zwischenmenschlicher Beziehungen in einer Welt nahezu fehlender Nächstenliebe. „Wir“ sind im Text die zwei Männer, die stets in der Mitte der Gruppe gehen, wenn mit Stöcken und langsamem Gang versucht wird, Schritt für Schritt voranzukommen. In ihrer hoffnungslosen Lage sind die Blinden auf die Güte anderer Menschen angewiesen, die ihnen jedoch zumeist verwehrt wird. Sogar der Maler, exzentrisch und selbst schon durch Krankheit bedroht von der Blindheit, dirigiert die Blinden nur wie besessen herum, dass sie wieder und wieder die eine Szene für ihn nachstellen, sich wieder und wieder in den Bach werfen, damit er das menschliche Entsetzen und den Schrecken möglichst originalgetreu auf die Leinwand bannen kann.
„Der Blindensturz“ ist eine kurze Erzählung, gestaltet wie ein vielschichtiges Gemälde, an dem man auch nach langem Betrachten noch neue Details entdeckt; eindringlich und erschreckend, scheinbar absurd und komisch.
♠ Gert Hofmann: Der Blindensturz. dtv 1994, 136 Seiten, Taschenbuch, 6,60 Euro. ISBN: 978-3423119924 (Jahr der Erstausgabe: 1985). ♠