Vom Springen, Fliegen und vom Fallen

Mein Urahn Ambrosius Arimond glaubte, alle Vögel unserer Erde besäßen eine gemeinsame Sprache. Sein Leben lang beschäftigte er sich mit der Entschlüsselung ihrer Gesänge, einer Welt magisch klingender Töne, Zeichen und Bedeutungen.

Wir schreiben das Jahr 2003 und Paul Arimond kommt 23-jährig nach Afghanistan, weil er sich bei der Bundeswehr freiwillig für den Sanitätsdienst gemeldet hat. Von klein auf ist Paul fasziniert von der Ornithologie, hat früher zusammen mit seinem Vater viele Ausflüge unternommen und stundenlang Vögel beobachtet – eine Tradition, die in der Familie Arimond bereits spätestens im 18. Jahrhundert ihren Ursprung nimmt. Denn in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts zog es Pauls Vorfahren Ambrosius nach Süd- und Zentralasien, um dort die Ländereien zu erkunden und ihm unbekannte Vogelarten zu entdecken und zu studieren. Dieser Leidenschaft geht Ambrosius auf seinen ausgedehnten Reisen durch den Mittleren Osten jahrelang nach und Paul, sein Nachkomme, führt die Beobachtungen über 200 Jahre später fort.

An vielen Stellen im Roman werden Pauls ornithologische Beobachtungen von Zeichnungen der beschriebenen Vögel unterstützt, von Aquarellen, die Paul mit starkem Kaffee auf Papier malt. Sie lassen den Leser innehalten und selbst zum Betrachter der Vögel werden und erinnern gleichzeitig an die Anfänge der Vogelkunde und damit wiederum an Pauls Vorfahren Ambrosius. Seine Reise stellt den scharfen Kontrast zu Pauls Stationierung in Afghanistan dar: Ambrosius’ Reiseberichte spiegeln eine idyllisch-verklärte Entdeckerstimmung, beschreiben eine idealisierte, längst vergangene Kultur, in der von Krieg keine Rede ist – der Name „Ambrosius“ steht fast symbolhaft für das Paradies auf Erden, das Pauls Urahn in der Ferne vorfindet. Paul hingegen findet sich in einem völlig anderen, zerstörten Afghanistan wieder und versucht trotz aller Widrigkeiten, in der Vogelbeobachtung die heile Welt seines Vorfahren zu finden.

Schnell wird deutlich, dass die Vogelbeobachtungen für Paul ein Weg sind, mit dem Kriegsgeschehen vor Ort zurechtzukommen. Sie nehmen den Hauptteil seiner Berichte ein, der Krieg wird oft gar nicht oder nur nebenher erwähnt, als würde er von Beginn an verdrängt werden. Doch nach und nach schleicht der Krieg sich ein in Pauls Berichte und je bedrohlicher die Situation in seinem Lager wird, desto verzweifelter versucht Paul, sich in die Beobachtungen der afghanischen Tierwelt zu flüchten, ist die Tierwelt doch neutrale Instanz im Kriegsgeschehen rund um ihn herum.

Vielleicht kommt es im Leben nur darauf an, irgendetwas zu finden, bei dem alles andere in Vergessenheit gerät.

In klarer, ausdrucksstarker Sprache verwebt Norbert Scheuer die beiden so konträren Themenbereiche Krieg und Ornithologie im Verlauf des Romans immer enger. Zwischendurch wechselt ab und an die Perspektive und es werden in Rück- und Vorgriffen immer neue Versatzstücke aus Pauls Lebensgeschichte eingestreut, deren Puzzleteile sich so nach und nach zu einer weiteren Geschichte von Flucht und Verdrängung zusammensetzen. Der Roman tastet sich auf diese Weise an das große Thema der Traumata heran, beschreibt feinsinnig die Auswirkungen von Krieg und Verdrängung auf die menschliche Psyche und hüllt die Rahmenhandlung in einen für Paul schützenden Mantel aus naturkundlichen Beschreibungen. Aber der Roman macht auch von Anfang an deutlich, dass die titelgebende „Sprache der Vögel“ ein zweischneidiges Schwert ist: Für Ambrosius sprechen die Vögel der Erde eine universale Sprache, die es zu entziffern gilt, die die Vögel auf ihren unsichtbaren Bahnen mit sich durch die Lüfte tragen. Für Paul werden die Stimmen der Vögel hingegen mehr und mehr Ausdruck einer inneren Zerreißprobe:

Ich höre wieder unbekannte, wohlklingende Vogelstimmen im Traum, aber ich fürchte, irgendwann wird sich das ändern und ich werde schreiend aufwachen.

Die Zuspitzung von Pauls innerem Kampf inmitten von Krieg und unbewältigter Vergangenheit stellt Norbert Scheuer grandios dar. Ein starker, lesenswerter Roman.

♠ Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel. C.H.Beck 2015, 238 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. ISBN: 978-3406677458. ♠

Merken

Merken

Merken

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Eine kleine Buchkritik. Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert