Wie eine Graphic Novel – ohne Bilder

Viel zu schnell durchgelesen ist dieses sowieso schon schmale Buch aus dem Rowohlt-Verlag: „Felix und Felka“ von Hans Joachim Schädlich. Auf gerade einmal 200, teils nur halb bedruckten Seiten spürt der Autor den letzten Lebensjahren des aus Osnabrück stammenden jüdischen Malers Felix Nussbaum und seiner Freundin, später Frau, Felka Platek, nach. Beide Maler verlassen Deutschland schon früh, zunächst für ein Stipendium in der Villa Massimo in Rom, das Felix Nussbaum 1932 erhielt, anschließend reisen sie weiter durch Italien, dann nach Frankreich und Belgien. Nach Deutschland, wissen beide, können sie nicht wieder zurück und sie leben in ständiger Angst um die Familien, die aus der Heimat nicht fliehen wollen oder können: Felix‘ Eltern in Deutschland, Felkas Eltern in Polen. Ihre Reise durch Europa ist begleitet von einem steten Gefühl der Heimatlosigkeit, der zunehmenden Mittellosigkeit und der fehlenden Perspektive, sowohl für das eigene Leben, als auch für das künstlerische Schaffen. Mit Auftragsarbeiten für Porzellanmalerei halten sie sich über Wasser, unterstützt von Freunden, die ihnen Obdach gewähren und ihre Kunst fördern, fühlen sich aber stets wie Getriebene, ruhelos und oft gereizt.

Schädlich erzählt die Geschichte von Felka Platek und Felix Nussbaum rigoros verknappt, reiht Hauptsatz an Hauptsatz, als handele es sich um ein Drehbuch mit Handlungsanweisungen, knappen Szenenbeschreibungen und kurzen Dialogen. Anfangs gewöhnungsbedürftig, ist diese verknappte Sprache eine große Stärke dieses Buchs: Die Beklemmung eines Lebens auf der Flucht vor dem Nazi-Regime bekommt gerade durch die Schnörkellosigkeit der Sprache eine erschreckende Unmittelbarkeit. Alles wird sehr komprimiert erzählt und auch künstlicher Spannungsaufbau wird vermieden, was dem beklommenen Gebanntsein beim Lesen allerdings keinen Abbruch tut. Es bedarf oft auch nicht vieler Worte, um die klaffenden Löcher zu beschreiben, die der Zweite Weltkrieg in die deutsche und die europäische Kultur und Gesellschaft gerissen hat.

Eine zusätzliche Stärke des Textes sind die in die Rahmenhandlung eingestreuten Originalzitate, unter anderem von Zeitzeugen und aus Briefen von Felix Nussbaum an Freunde und Förderer. Diese machen die Verzweiflung der Lage deutlich:

Gewiss, ich verstehe wohl, was Sie meinen, aber glauben Sie ja nicht, dass Fremde Heimat ist. Ob hier oder dort – ohne Echo zu schaffen ist bedrückend. Man steht zwischen unendlich vielen Bergwänden und ruft und schreit, und kein Echo klingt zurück. Bedrückend auch sind die vielen Bilder, die man gemalt hat und malt und stumm auf Mansarden und sonstigen Dachkammern herumstehen und sich langweilen.

(Felix Nussbaum in einem Brief aus dem Jahr 1937)

Daneben Schädlichs knapper Schreibstil:

Felix sagt:
«Die Kleins haben mich übrigens nach Buffalo eingeladen.
Ich will ihnen schreiben, daß mir das ein bißchen zu weit ist. Aber wenn hier in Belgien mal irgend so ein Nazi ans Ruder kommt, dann vielleicht.»
Felka sagt:
«Das sagst du so, aber dann ist es schon zu spät. Ich kann mir Amerika auch nicht vorstellen.»

Die Tragweite, die solche einfach wirkenden Dialoge haben, schwingt im Hintergrund immer mit. Oftmals erinnert der Schreibstil auch an jenen von Graphic Novels, in denen kurze Sätze die Szenerie beschreiben und in deren Bildern dann die Dialoge stattfinden – mit dem Unterschied, dass die Bilder hier gänzlich fehlen, was in Anbetracht der Geschichte und in dem Wissen um die in Auschwitz getöteten Maler eine zusätzliche Tragik erhält.

♠ Hans Joachim Schädlich: Felix und Felka. Rowohlt Verlag 2018, 208 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. ISBN: 978-3498064372. ♠

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„Alles hätte aber auch anders kommen können“

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, hatte die Großmutter am Rand der Grube zu ihr gesagt. Aber das stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war – auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman „Aller Tage Abend“ und mit dem unfassbaren Schmerz einer jungen Mutter, die um ihre gerade verstorbene, nur acht Monate alte Tochter trauert. Das Kind ist in der Nacht erstickt, Vater und Mutter standen dabei und wussten sich nicht, wussten dem Kind nicht zu helfen, schrien sich an und sahen hilflos dabei zu, wie es aufhörte zu atmen. Nun trauert die Mutter, die nun keine Mutter mehr ist, um ihr Kind und trauert gleichzeitig um das Mädchen, die Frau, um die alte Dame, die das Kind hätte werden können. Ihr Mann indes kann mit dieser Situation nicht umgehen und flieht, bucht eine Passage auf einem Schiff nach New York und kehrt seinem alten Leben und seiner Frau den Rücken.

Doch: Alles hätte aber auch anders kommen können.

Treibende Kraft in Jenny Erpenbecks Roman „Aller Tage Abend“ ist dieser Gedanke an das „Was wäre, wenn“. Wenn nur kleine Dinge anders gelaufen wären, wenn nur die ein oder andere Entscheidung anders getroffen worden wäre, dann wäre ein Leben plötzlich ganz anders verlaufen. Und so wird aus einem Leben, das früh zu enden droht, plötzlich eine Geschichte, die sich über ein ganzes Jahrhundert hinweg bis in die heutige Zeit erstreckt.

„Aller Tage Abend“ erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie aus Galizien und von ihrem Kampf ums Überleben, zur Jahrhundertwende, im Ersten, im Zweiten Weltkrieg und in der Zeit danach. Ein mal sehr enges, mal sehr locker-distanziertes Band verknüpft die Töchter, Mütter und Großmütter der Familie, die jeweils ebenfalls Töchter, Mütter, Großmütter sind und werden, miteinander. Nach und nach offenbaren sich dem Leser dabei Familiengeheimnisse, die diese mit sich herumtragen, sie aber vor ihren Töchtern oder ihren Müttern verschweigen, seien sie noch so elementar. Spuren in die Vergangenheit werden verwischt, Geschichten mit ins Grab genommen, sodass die Kinder unwissend herumwandeln zwischen den Spuren ihrer Ahnen.

Die Themen, die Jenny Erpenbeck anreißt, sind groß, auch wenn sie teils nur kurz aufleuchten: das Schicksal von Auswanderern, die in der neuen Welt nicht bleiben dürfen und zurückgeschickt werden in den vermutlich sicheren Tod; Hungersnöte; der Holocaust; das Erinnern an die Toten und die Dinge, die nach dem Tod von ihnen bleiben; das Ende der DDR und der Umgang mit dem Wegbrechen eines bis dahin identitätsprägenden Staates; Mutter-Tochter-Beziehungen und ihre Innigkeiten und Verschrobenheiten, ihre Geheimnisse und ihre Vertrautheiten. All das kommt und geht und wird dabei stets bestimmt vom Schmetterlingseffekt:

Vielleicht müsste man einmal die Stärke des Luftzugs untersuchen, den so eine Seele beim Umherirren macht. Vielleicht werden auch hier, mitten in dieser Wüste, einmal Blumen wachsen, Tulpen vielleicht sogar, vielleicht wird die Anwesenheit unzähliger Schmetterlinge eines Tages einmal ebenso wirklich sein, wie es jetzt die Abwesenheit jeglicher Schmetterlinge ist, bei minus 63 Grad Celsius.

Auch wenn die Handlung mit den vielen Dramen, die diese Familie erschüttern, es hergeben würde, ist Jenny Erpenbecks Sprache nie zu emotionsheischend, nie rührselig oder kitschig. Stattdessen vollführt sie kunstvolle Sprachspiele, lässt beispielsweise Gedanken und Handlungen von Menschen ineinanderfließen, über Kontinente hinweg, weil sie etwas verbindet, von dem sie beide nicht loskommen, lässt abgebrochene Sätze und angedeutete Handlungen miteinander verschwimmen zu einem wabernden, mitreißenden Handlungsstrom, flicht immer wieder Gedankenströme von sehr zarter, flüchtiger Poesie ein und findet zwischen all der Härte der Handlung eine zarte Ausdrucksweise für eigentlich Ungeheuerliches – wie beispielsweise für Denunziantentum und Schreibtischtäter:

Vor vielen Jahren hat der eine das eine Wort gesagt, und der andere das andere Wort, Worte haben Luft bewegt, Worte wurden mit Tinte auf Papier geschrieben, wurden abgeheftet, Luft ist aufgerechnet worden mit Luft, und Tinte mit Tinte. Es ist schade, dass man die Grenze nicht sehen kann, an der Worte aus Luft und Worte aus Tinte sich in etwas Wirkliches verwandeln, ebenso wirklich wie eine Tüte Mehl, eine Volksmenge, die in Aufruhr gerät […]

„Aller Tage Abend“ ist eine kunstvoll konstruierte Familiengeschichte, die lange nachhallt. Lesenswert!

♠ Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. Penguin Verlag 2017, 288 Seiten, Taschenbuch, 10,- Euro. ISBN: 978-3328102502 (Jahr der Erstausgabe: 2012). ♠

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Einfach mal die Klappe halten

Karim Mensy reicht’s. In Deutschland ist er als Asylbewerber gescheitert, er hat keinerlei Perspektive mehr und ist ausreisepflichtig. In Deutschland zu studieren, zu leben und zu arbeiten, davon hatte er geträumt, als er aus dem Irak floh, aber das alles wird er in Deutschland nicht können. Er hat daher Kontakte zu einem Schlepper aufgenommen, der ihn hoffentlich nach Finnland bringen wird. Doch bevor er abreist, stattet er der für ihn zuständigen Mitarbeiterin in der Ausländerbehörde, Frau Schmidt, noch einen letzten Besuch ab. Und sie, die sonst immer ohne jedes Mitgefühl über sein Schicksal entschieden hat wie über das von so vielen anderen Asylsuchenden, hat dieses Mal gefälligst zuzuhören. Also fesselt er sie an ihren Stuhl und klebt ihr den Mund zu. Und Karim kann sich endlich einen Joint anzünden und sich alles ungestört von der Seele reden.

Tragikomisch und beklemmend schildert Abbas Khider in „Ohrfeige“ die Perspektivlosigkeit und die daraus resultierende quälende Langeweile der im „Asylantenheim“ zufällig zusammengewürfelten Flüchtlinge verschiedenster Nationen Anfang der 2000er. Mit ihrem ungeklärten Aufenthaltsstatus ist ihnen nicht erlaubt, eine Arbeit aufzunehmen – nicht einmal einen Sprachkurs dürfen sie machen, sodass sie sich unter den Einheimischen dauerhaft wie Außerirdische fühlen, unfähig, Kontakte aufzubauen. Schul- und Studienabschlüsse aus ihren Heimatländern werden nicht anerkannt, quälend lange Monate vergehen zwischen dem Antrag auf Asyl und dem grünen Brief, der die Entscheidung dazu mitteilt. In diesen Monaten voll von erzwungener Untätigkeit verpuffen nach und nach sämtlicher Ehrgeiz und sämtlicher Elan, mit dem die Reise in ein neues Leben gestartet ist. Zurück bleiben Resignation und Frustration.

Was du sagst, interessiert in den Beamtenstuben kein Schwein. Das weißt du selbst. Jetzt seid ihr Iraker dran, wie einst die Jugoslawen nach dem Balkankrieg. Zuerst lässt man sie herein, nach dem Krieg schickt man sie ins Chaos zurück, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was aus ihnen wird.

Khider, der 1992 selbst aus dem Irak fliehen musste, porträtiert in seinem Roman das Unmenschliche und Unberechenbare der deutschen Behörden und die Stigmatisierung von Flüchtlingen, ohne aber den Blick auf die kriminellen Strukturen unter den in Deutschland lebenden Geflüchteten auszulassen. Es schildert die paradoxe Situation von Menschen, die sich ein neues Leben aufbauen wollen, die eine neue Sprache lernen und sich in einem neuen Land eine Existenz aufbauen wollen, die aber dazu gezwungen werden, rein gar nichts zu tun und auf unbestimmte Zeit zu warten, ohne Geld und ohne wirkliche Hoffnung. Einer von Karims Bekannten steigert sich in Fanatismus hinein, ein anderer wird wahnsinnig. Und Karim, der sich als „aufrichtiger Trottel“ seinen Weg zu bahnen versucht, fällt durch die Raster eines unpersönlichen Asylsystems.

Auch wenn die Handlung des Romans Anfang der 2000er stattfindet, ist „Ohrfeige“, gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre, auch heute noch aktueller denn je und ein gut gelungenes, lakonisches Porträt eines wütenden und resignierenden jungen Mannes auf der Suche nach einem Neuanfang.

♠ Abbas Khider: Ohrfeige. Hanser Berlin 2016, 224 Seiten, gebunden, 19,90 Euro. ISBN: 978-3446250543. (Auch als Taschenbuch erhältlich: btb Verlag 2017, 10,- Euro. ISBN: 978-3442714902.) ♠

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Wenn Eskalation zur Routine wird

Jeder, der einen Säufer zu Hause sitzen hat oder selber einer ist, kann sich denken, dass aus den Vorkommnissen dieser Nacht keine nennenswerten Konsequenzen gezogen worden sind, weder von mir noch von meiner Mutter noch von Gott oder dem Jugendamt oder von sonst irgendwem, es ging weiter, wie immer.

Charlies Mutter ist alkoholkrank und schizophren. Schon zu Grundschulzeiten muss Charlie sich um sich selbst kümmern, da ihre Mutter zumeist weder die Kraft noch das Interesse daran hat, für ihre Tochter zu sorgen. Für Charlie ist es bittere Normalität, dass sie von ihrer Mutter keine Fürsorge erfährt und dass sie sich auch nicht an sie wenden kann, wenn sie verletzt, verängstigt oder traurig ist. Stattdessen: Häusliche Gewalt und Alkoholismus, Armut, Verwahrlosung und Dreck und die immer schwelende Angst vor gewalttätigen Eskapaden im Rausch. Charlies Vater hat sich schon lange aus der Verantwortung herausgezogen. Nur zu Weihnachten und zum Geburtstag kommt er vorbei, um ein wenig Familie zu spielen und verschwindet dann genauso schnell wieder wie er gekommen ist. In der Grundschule hat Charlie mehr oder minder lockere Freundschaften; bei Iskender, ihrem engsten Freund, ist sie nach der Schule oft zu Hause. Als der Gegenbesuch ansteht, bricht Charlie in Panik aus, weil Iskender einen Einblick in die wahren Abgründe ihres Alltags zu Hause bekommen könnte – doch erstaunlicherweise schafft ihre Mutter es, für Iskenders Besuch genügend Heile-Welt-Theater zu spielen, dass die Illusion eines normalen Lebens zunächst bestehen bleiben kann.

Abseits von dem gelegentlichen Schauspiel ihrer Mutter findet Charlie die Andeutungen einer heileren Welt bei ihren Nachbarn Georg und Maria; sie wohnen im Bungalow gegenüber der Betonmietskaserne, in der Charlie und ihre Mutter leben. Wie besessen beobachtet Charlie ihre Nachbarn zu jeder nur möglichen Gelegenheit, schleicht sich in ihren Garten, versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, fühlt sich zu ihnen hingezogen, auch wenn der soziale Graben, der zwischen der Bungalow- und der Sozialwohnungsbau-Straßenseite verläuft, weit tiefer klafft als eine Bordsteinkantenhöhe.

Helene Hegemanns abgründige Erzählung einer durch Vernachlässigung und psychischer wie physischer Gewalt zerbrochenen Kindheit ist eingebettet in das Setting einer dystopischen, präapokalyptischen deutschen Großstadt kurz vor dem Ausbruch eines großen Krieges, von dem hier und da aus der Retrospektive berichtet wird, dessen Hintergründe aber rudimentär bleiben und als dem Leser bekannt vorausgesetzt werden. Das schafft die bedrohliche Kulisse eines Lebens ohne Perspektive in einer Welt ohne Zukunft, rückt aber auch den Fokus der Erzählung ein wenig zu stark auf ein großes Ganzes, das das eigentliche Drama im Kern dieses Romans unnötig klein werden lässt. Auch Charlies Beziehung zu Georg und Maria steht gerade zu Beginn des Romans unverständlich weit im Vordergrund und überschattet den eigentlichen Kern der Erzählung, bis es auf Seite 47 zum erlösenden „Jetzt also langsam zu mir.“ kommt. Ab dort aber ist „Bungalow“ ein starker Roman über den alltäglichen Überlebenskampf von Menschen am Existenzminimum, von Suchtkrankheit und einer Kindheit ohne einen behüteten Rückzugsort.

♠ Helene Hegemann: Bungalow. Hanser Berlin 2018, 288 Seiten, gebunden, 23,- Euro. ISBN: 978-3446253179. ♠

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Einsamkeit und Sex und Selbstmitleid

Depression, Globalisierungskritik, die Trauer um verflossene Liebschaften und völlige Ziellosigkeit – wenn man erst einmal die klassische, so langsam allerdings in die Jahre kommende Houellebecqsche Ficki-Ficki-Vulgarität, die die erste Hälfte dieses Romans zukleistert, überstanden hat, kann man zusammenfassen, dass diese Themen im Fokus von Michel Houellebecqs neuem Roman „Serotonin“ stehen. Ja, dafür muss man sich erst einmal durch eine ganze Tirade chauvinistischer Oberflächlichkeiten kämpfen, vorbei an Dingen, von denen man eigentlich nie lesen wollte – aber irgendwann, kurz bevor man alle Hoffnung fahren lassen möchte, wird der Roman tatsächlich lesbar.

Beruflich gescheitert bei dem Versuch, die negativen Folgen der Globalisierung für kleine Handwerksbetriebe und Landwirte abzuschwächen, spürt Protagonist Florent-Claude Labrouste seiner Vergangenheit nach: seinen Exfreundinnen und seinem Studienfreund, der selbst gerade als Milchbauer zu scheitern droht. Dabei wankt er stetig zwischen depressiver Traurigkeit und einem Zustand völliger Gleichgültigkeit hin und her und taumelt haltlos durch sein Leben, entlang der Stationen seiner Vergangenheit.

Die zweite Hälfte macht den Roman wirklich gut. Wenn, Antidepressivum sei Dank, Florent-Claudes Libido endlich zwangsabgeschaltet wird. Das rechtfertigt nicht die erste Hälfte, aber mit der muss man leben, wenn man Houellebecq lesen will. Mit Sicherheit gäbe es andere, bessere Formen, um insbesondere die globalisierungskritischen Themenstränge dieses Buchs in ihrer Drastik und ihrer Unaufhaltsamkeit angemessener darzustellen. Trotzdem wirken sie inmitten von Florent-Claudes Depressionszustand erstaunlich intensiv – vermutlich, weil man einfach froh ist, dem Genitaliengefasel temporär entkommen zu sein.

„Serotonin“ ist dadurch eher eine 330 Seiten starke Packungsbeilage zu Risiken und Nebenwirkungen eines Antidepressivums bei einem in einer tiefen Lebenskrise steckenden Chauvinisten. Kann man machen. Kann man so und so sehen. Ist halt Houellebecq.

♠ Michel Houellebecq: Serotonin. DuMont 2019, 336 Seiten, gebunden, 24,- Euro. ISBN: 978-3832183882. ♠

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Einstürzende Neubauten

November 1918: Nach vier langen Jahren ist der Erste Weltkrieg vorbei. Die Monarchie ist am Ende, der Kaiser flieht ins Exil und in den bisherigen Fürstentümern in Deutschland entsteht ein Machtvakuum, das es zu füllen gilt. In dieser chaotischen Zeit direkt nach dem Krieg wird auch in Bayern die Monarchie gestürzt und die 900-jährige Regentschaft der Wittelsbacher findet im Taumel der „Weltrevolution“ und mit der Ausrufung des Freistaates Bayern ein jähes Ende.

Schmelztiegel aller politischen Strömungen in Bayern Ende 1918 ist München. Die Euphorie und der Revolutionswille sind groß nach Kriegsende und die Revolutionäre, die nun versuchen, die Oberhand in München zu gewinnen, drängen auf radikalen Umbruch, alle auf ihre eigene Weise. Kommunisten, Sozialisten, Spartakisten, Anarchisten, Monarchisten, Nationalisten, sie alle streiten sich um die Vorherrschaft im Land und um die Hoheit über das bayerische Volk. Mitten im Geschehen: Literaten wie Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke.

Und was „1913“ von Florian Illies für das Jahr vor dem Ersten Weltkrieg ist, ist „Träumer“ von Volker Weidermann für das Jahr danach, fokussiert auf die Geschehnisse im neuen Freistaat Bayern: „Träumer“ schildert die großen politischen Umwälzungen jeder Zeit und setzt die intellektuelle Elite des Landes in den Mittelpunkt der Erzählung, ihre Gedanken, ihre Einschätzungen, ihre Taten. Wie der Titel schon besagt, ist der Roman aus der Blase der intellektuellen Träumer jener bewegten Monate heraus geschrieben, utopieverliebter Revolutionäre, die sich an Räterepubliken und Demokratien versuchen, ohne je vorher in einer solchen gelebt zu haben. Die sich mit ihren revolutionären Ideen nach oben kämpfen, nur um kurze Zeit später schmerzhaft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden.

„Träumer“ ist ein mitreißendes Werk über eine Zeit, in der sich die Machtverhältnisse von einem Tag auf den anderen schlagartig um 180 Grad drehen konnten. Es vermittelt dabei nicht nur einen Überblick über die geschichtlichen Ereignisse jener Monate, sondern auch teils erwartbare, teils ungewöhnliche Einblicke in die politischen Ansichten diverser Schriftsteller. Erschreckend ist beispielsweise der völlig selbstverständliche Antisemitismus, der bei vielen teils ganz unverblümt zum Vorschein kommt, so auch in diversen Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Mann, der sich in seinem Tagebuch jener Zeit sowieso als ein politisches Fähnlein im Winde herausstellt. „Träumer“ beschreibt die politische Landschaft eines Sandkastens, in dem ständig und in kürzester Zeit neue Traumschlösser entstehen, die vom nächsten umgehend radikal und unversöhnlich in Grund und Boden gestampft werden. Ein spannender Roman über eine immens spannende Zeit.

♠ Volker Weidermann: Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen. Kiepenheuer & Witsch 2017, gebunden, 288 Seiten, 22,- Euro. ISBN: 978-3462047141. ♠

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Gegen das Wegschauen

Manchmal bedarf es langer und mühsamer Recherche, um aus bruchstückhaften Überlieferungen der eigenen Familiengeschichte ein umfassenderes Bild zu formen. Kolja Mensing hat mit „Fels“ eine solche Rechercheleistung vollbracht. In zahlreichen Gesprächen mit seiner Großmutter hat er nach und nach immer mehr Erinnerungen an ihre Jugend während der NS-Zeit gesammelt und diese mit Nachforschungen aus Archiven, Zeitungen, alten Briefen und Postkarten zusammengefügt, Puzzlestück für Puzzlestück. Entstanden ist dabei ein wichtiges Buch über das Erinnern und das Verdrängen.

Mensings Großmutter erzählt gern von früher, insbesondere die romantischen Geschichten darüber, wie sie Mensings späteren Großvater kennenlernte, wie sich die beiden heimlich verlobten und mitten im Krieg auch heirateten. Im Zentrum von Mensings Buch steht allerdings nicht nur die Geschichte seiner Großeltern, sondern insbesondere die von Albert Fels, einem jüdischen Bekannten der Familie, dessen Name in einem der Telefonate mit seiner Großmutter nur eher zufällig fällt, der Mensing aber sofort aufhorchen lässt.

Meine Großmutter hatte aus dem Krieg eine Liebesgeschichte gemacht, und ich hörte ihr gern zu […]. Sie hatte die Gabe, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. […] Erst als sie Albert Fels erwähnte, den alten Knecht, der hinter dem Haus ihres Onkels nachmittags gern auf der Bank vor der Scheune saß, fiel ein Schatten auf die Geschichte meiner Großmutter.
Fels, sagte sie, war Anfang des Krieges verschwunden. Er hatte wieder einmal tagelang zu viel getrunken, und schließlich fiel er ins Delirium und wurde in die Heil- und Pflegeanstalt in O. eingewiesen. Im Dorf hörte man nie wieder von ihm.
Man weiß ja, was damals passiert ist, sagte meine Großmutter […].

Nun hätte der Enkel es darauf bewenden lassen können, aber das Interesse an Albert Fels, über den die Großmutter so wenig Konkretes zu berichten hatte, war geweckt. Jede noch so kleine Erinnerung der Großmutter an Fels, an dessen Lebensgeschichte und Lebensumstände lässt Mensing sich erzählen. Er merkt aber auch, dass er oftmals nur die eine Seite der Medaille hört, die kurze, einfache, die schöngefärbte Variante der Erinnerung. Er macht sich daher ergänzend auch auf anderen Wegen auf die Suche und trägt aus unterschiedlichsten Quellen Informationen über die sich verschlechternden Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung in Deutschland allgemein, aber auch über die eigene Familiengeschichte und die von Albert Fels zusammen. Und je tiefer er gräbt, desto tiefer sind auch die Abgründe, die sich auftun.

Kolja Mensing hakt in seinem autobiografischen Roman „Fels“ insbesondere an den Stellen nach, an denen die Zeitzeugen-Generation durch Verdrängungsmechanismen das Wegschauen und Wegdenken geübt hat. Es lässt erahnen, wie schier zahllos die Erinnerungen der Kriegsgeneration eigentlich sein müssten, an Menschen, die zunächst Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kollegen waren, die dann argwöhnisch beobachtet, gemieden, enteignet, verschleppt und ermordet wurden. Und es lässt vermuten, dass kaum jemand geglaubt haben kann, die jüdischen Mitbürger seien einfach so verschwunden, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wohin sie verschwunden sind. Stattdessen wichen die Gedanken an sie anderen, leichteren Erinnerungen.

Kolja Mensing macht dadurch deutlich, wie der NS-Staat überhaupt von der obersten Ebene bis hinunter zur kleinen Dorfgemeinschaft funktionieren konnte. Sein Buch zeugt von der Suche nach einem Sündenbock, der in der jüdischen Bevölkerung gefunden wurde, vom kollektiven Wegschauen und von mehr und mehr Gleichschaltung im totalitären NS-Regime. Es zeigt, wie tief die perfide Ideologie der Nazis in die Denkweise der Bevölkerung hineingesickert ist, bis sie das ganze gesellschaftliche Miteinander durchdrungen hatte. Und der Roman zeugt von der selektiven Erinnerung der Mitläufer, die weggeschaut oder gar mitgejubelt haben, die durchaus mitbekommen haben, dass die jüdischen Bewohner ihrer Orte vertrieben wurden oder verschwanden, die die Erinnerung an sie aber nicht wachgehalten, sondern verdrängt und vergessen haben.

Gerade derzeit, wo vom Fremdenhass geprägter Jargon wieder salonfähig zu werden droht, ist dieses Buch wichtiger denn je. Denn lange ist dieses Kapitel der deutschen Geschichte wirklich noch nicht her. Umso wichtiger ist es, dass sich die Geschichte nie mehr wiederholt.

♠ Kolja Mensing: Fels. Verbrecher Verlag 2018, 176 Seiten, broschiert, 16,- Euro. ISBN: 978-3957323408. ♠

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„And I learned quite a lot when I was young“

Das kleine Mädchen, von den Großen Meta genannt, sitzt auf dem Grund des alten Regenfasses und schaut in den Himmel. Der Himmel ist blau und sehr tief. Manchmal treibt etwas Weißes über dieses Stückchen Blau, und das ist eine Wolke. Meta liebt das Wort Wolke. Wolke ist etwas Rundes, Fröhliches und Leichtes.
Meta sitzt strafweise im Regenfass. Sie hat die Großen bei der Heuernte gestört und geärgert. Sie ist zweieinhalb Jahre und kann nicht über den Fassrand blicken; eingefangen, festgehalten und eingesperrt zu werden ist das Schlimmste, was es gibt.

So beginnt der Roman „Himmel, der nirgendwo endet“ und so ist Metas Kindheit: ein ständiges Auf und Ab der Gefühle; die Euphorie über neue Entdeckungen, immer im Wechsel mit der Frustration und der Wut darüber, von den „Großen“, den Erwachsenen, in der eigenen Freiheit beschränkt zu werden.

Meta ist ein Kind mit schier endlos sprudelnder Phantasie. Alles, was sie findet, muss untersucht und probiert werden. Ihre besten Freunde auf dem Hof sind ein großer Stein und ein alter Birnbaum, ihre größten Feinde kommen nachts aus den Märchenbüchern heraus und lassen sie nicht schlafen – insbesondere der eiserne Ritter, der sich hinterrücks im Ofen versteckt, sobald ein „Großer“ kommt, weil Meta so schreit. Von den Geschichten vom Kriegsdienst in Russland und in Italien wiederum, die ihr Vater liebend gern erzählt, bekommt Meta nicht genug und träumt sich mit hinein in stundenlange Fußmärsche durch Eis und Schnee. Wenn nur ihre Mutter sie nicht immer so missbilligend behandeln würde, weil die wilde Meta so weit entfernt ist von dem braven Mädchen, das sie sein sollte…

„Himmel, der nirgendwo endet“ ist ein liebenswert anrührender Roman über den Zauber der Kindheit und über ein Mädchen, das gegen Rollenklischees aufbegehrt. Er erzählt Metas Geschichte von der jüngsten Kindheit bis an die Grenze der Pubertät und ist ein schillernder Bericht des steten Kampfes der kleinen, mutigen Heldin Meta gegen die schnöde Konvention und alles Profane. Die eigentlich längst verblassten Erinnerungen an unbeschwerte Kindheitstage malt der Roman neu an, mit bunten, leuchtenden Farben und dem zündenden Funken Verrücktheit. Kein Roman, bei dem es ein Skandal wäre, ihn nicht zu kennen (da sollte der Griff dann eher und unbedingt zu Marlen Haushofers „Die Wand“ gehen), aber ein Roman, den zu lesen es sich trotzdem auf jeden Fall lohnt.

♠ Marlen Haushofer: Himmel, der nirgendwo endet. Aktuelle Ausgabe: List Taschenbuch Verlag 2005, 224 Seiten, Taschenbuch, 8,95 Euro. ISBN: 978-3548605722 (Jahr der Erstausgabe: 1966). ♠

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„Dumm klickt gut.“

„Kein Mensch ist mehr gezwungen, schwierige Entscheidungen zu treffen – denn in QualityLand lautet die Antwort auf alle Fragen: OK.“

Ja, so ist das in QualityLand, dem besten aller Länder. Hier muss man sich keine Gedanken mehr über irgendwas machen, denn die Systeme und ihre Algorithmen erledigen alles. Einkauf? Kommt von selbst per Drohne nach Hause. Partnersuche? QualityPartner kennt den perfekten Partner für Dich und hat schon einen Tisch für Euch zwei in Eurem Lieblingsrestaurant gebucht. WeltWeiteWerbung schreibt Dir die schönsten Clickbait-Nachrichten. „Ob die Nachrichten wahr oder falsch sind, interessiert dabei keinen. […] Dumm klickt gut.“

Bücher passen sich Deinem Lesegeschmack an, Werbung wird persönlich auf Dich zugeschnitten, die selbstfahrenden Autos wissen genau, wohin Du willst, fahren Dich und unterhalten sich dabei mit Dir. Wenn Du mal Unterstützung brauchst, sind Dein Staubsauger-Roboter, Dein sprechender Toaster, Dein Schnürsenkelbinder oder im Bedarfsfall auch Dein Liebesandroide nicht fern. Alles ganz einfach. Und bei dem Grad an Technisierung und der damit zwangsläufig einhergehenden geistigen Degeneration der Bevölkerung ist es kein Wunder, dass bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ein Androide antritt, der versucht, nicht mit dem Image eines Terminators, sondern vielmehr mit dem von Wall-E zu punkten.

Schöne neue Welt.

In QualityLand befindet sich jeder in seiner eigenen, von den größten Großkonzernen definierten filter bubble. Das Netz ist allgegenwärtig, jeder ist ausschließlich mit einem QualityPad und einem omnipräsenten digitalen Assistenten unterwegs, konsumiert Unmengen an Werbung und ist grundsätzlich herrlich oberflächlich.

Das Setting des Romans QualityLand wirkt, als wäre es aus allen möglichen Sience Fiction-Büchern oder -Serien zusammengepuzzelt, wie zum Beispiel 1984, Gattaca, Minority Report und diversen Folgen der britischen Serie Black Mirror. Marc-Uwe Kling setzt viele teils realistische, teils aberwitzige Ideen einer möglichen, nicht allzu fernen Zukunft zum durchaus annehmbaren Gesamtkonzept QualityLand zusammen. Die Basis für eine gelungene Gesellschaftssatire wäre damit vorhanden, würde nicht der teils sehr platte, klamaukige Humor so vielen Ideen so oft im Weg stehen. Was anfangs noch witzig ist, nimmt irgendwann einfach überhand. Jede gute Idee scheint mit einem Witz verbunden, der sie wieder abschwächt. Ärgerlicherweise führt das dazu, dass gerade die Stellen, die die Satire besonders stark machen würden, im Roman unterzugehen drohen, weil man irgendwann einfach nur noch auf den nächsten Gag wartet – als lese man das Bühnen-Script eines Stand-up-Comedians. Und irgendwann vermutet man hinter jeder Ecke das Känguru aus Marc-Uwe Klings Känguru-Chroniken – das dann tatsächlich auch selbstrefenziell um jene Ecke linst. Leider wirkt es in diesem Szenario aber fehl am Platz. Schade.

Schade auch, dass die zutreffendste Antwort auf die Frage, wie man den Roman QualityLand denn finden soll, wie bereits vorprogrammiert wirkt:

OK.

Besser aber auch leider nicht.

♠  Marc-Uwe Kling: QualityLand. Ullstein Verlag 2017, 384 Seiten, Hardcover, 18 Euro. ISBN: 978-3550050152 (dunkle Edition) bzw. 978-3550050237 (helle Edition). ♠

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Were diu werlt alle min…

[…] der König hatte für einen Moment überlegt, ob er sich das bieten lassen durfte, aber dafür waren Narren schließlich da, so gehörte es sich, wenn man König war. Die Welt behandelte einen mit Respekt, aber dieser eine durfte alles sagen.

So ist das, wenn man das Glück hat, ein Narr zu sein: Es herrscht Narrenfreiheit – zumindest wenn man schnell genug ist und weglaufen kann, falls es doch einmal zu brenzlig wird. Und der Held dieses Schelmenromans kann nahezu fliegen. Der Titel „Tyll“ legt es nahe: Hier handelt es sich nicht um irgendeinen Gaukler, sondern um einen, dessen Name die Jahrhunderte überdauert hat: Till Eulenspiegel.

Der Legende nach hat Till Eulenspiegel bzw. Tyll Ulenspiegel im 14. Jahrhundert gelebt. Daniel Kehlmann allerdings verlegt Tylls Lebensgeschichte in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, ins 17. Jahrhundert – eine Zeit also, in der die bäuerliche Landbevölkerung in weiten Teilen so oder so noch ähnlich arbeitet und lebt wie dreihundert Jahre zuvor; ein Leben, das von Hunger, Armut und viel harter Arbeit geprägt ist. Tyll wächst auf in einer einfachen und zutiefst abergläubischen Dorfgemeinschaft, in der die Mystik eine wichtige Rolle spielt, in der Gegenstände, Zeichen und Sprüche magische Wirkung haben, in der aber die Fähigkeit, anderen zu helfen, gleichermaßen Misstrauen erregen und als Teufelswerk geächtet werden kann. Und eigentlich hat Tylls Leben einen vorgezeichneten Weg: Als Sohn des Müllers müsste er die Mühle übernehmen und wie alle anderen auch bis zum Ende seines Lebens von harter Arbeit, Grütze und Dünnbier leben. Doch es kommt anders und Tyll als Gaukler zum fahrenden Volk – und von dort aus führt ihn sein Leben durch alle gesellschaftlichen Stände der damaligen Zeit.

„Tyll“ ist ein gelungener Roman über das Ausbrechen aus gesellschaftlichen Konventionen in einer Zeit, in der sich kaum einer mehr an eine Zeit ohne Krieg erinnern kann. In einem zutiefst starren System kann Tyll sich als Spötter über Standesgrenzen und über die Dummheit seiner Mitmenschen hinwegsetzen.

Kalt ist es geworden, wahrscheinlich wird es gleich wieder regnen. Auch die Hinrichtung dieses Hexers wird nichts nützen gegen das schlechte Wetter, es gibt zu viele böse Menschen, alle gemeinsam sind sie schuld an der Kälte und den Missernten und der Knappheit von allem in diesen letzten Jahren vor dem Ende der Welt. Aber man tut, was man kann.

„Tyll“ ist ein Roman, der wütend macht auf das hilflose Ausgeliefertsein von Freigeistern in einer tumben Dorfgemeinschaft, auf die schräge Verflechtung zwischen Religion und Pseudo-Wissenschaften und den Jahrzehnte andauernden Krieg der Religionen in Europa. Und es ist ein Roman, der Spaß macht, weil er jenen begleitet, der der frühneuzeitlichen Bevölkerung den Spiegel vorhalten kann. Gleichzeitig ist „Tyll“ auch eine Geschichte über das Geschichtenerzählen selbst, über getrübte, gefärbte, geschönte Erinnerungen, über die Subjektivität, das Vergessen und das Verdrängen, in Geschichten und auch in der Geschichtsschreibung. Und ab und an ist „Tyll“ auch schlichtweg ein Roman mit Sätzen von einnehmender Klarheit und Schönheit:

Uns andere aber hört man dort, wo wir einst lebten, manchmal in den Bäumen. Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Baches sehen. […] Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch neu für uns, und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.

„Wenn Sie in diesem Jahr nur ein Buch lesen“, sagte Denis Scheck in druckfrisch, „lesen Sie dieses.“ Das hat seine Berechtigung. Auch wenn es hoffentlich ein paar Bücher mehr werden.

♠  Daniel Kehlmann: Tyll. Rowohlt Verlag 2017, 480 Seiten, gebunden, 22,95 Euro. ISBN: 978-3498035679. ♠

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