Die wunderbare Einfachheit, andere zu hassen

In einer ungewöhnlich heißen Sommernacht Mitte der Vierzigerjahre wird Lawrence Newman von einer Stimme aus dem Schlaf gerissen. Eine Frau – Newman vermutet anhand des Akzents eine Puerto-Ricanerin – wird vor seinem Haus von jemandem bedrängt und ruft um Hilfe, ruft nach der Polizei. Newman beobachtet die Szene. Schweigt. Schließt das Fenster und wartet ab, bis es draußen wieder ruhig ist, um sich dann müde und desinteressiert wieder ins Bett zu legen. Was geht ihn das Unglück anderer an:

Ihre Aussprache war für Newman ein Beweis, dass sie zu keinem guten Zweck bei Nacht unterwegs war, außerdem gab sie ihm die Überzeugung, dass sie selber auf sich Acht geben konnte, da sie ja an diese Art Behandlung gewöhnt sein musste. Die Leute aus Puerto Rico waren so etwas gewohnt, das wusste er.

New York, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Lawrence Newman, im medizinischen wie im übertragenen Sinne stark kurzsichtig, liebt es gern gleichgeschaltet und ordentlich. Und Lawrence Newman ist ein waschechter Rassist. Er sitzt gern in der U-Bahn und sortiert Menschen ihrem Aussehen nach unterschiedlichen Ethnien, Nationalitäten und Religionszugehörigkeiten zu. Er ist stolz auf seine genaue Wahrnehmung und sein Können, Kopfformen, Augengrößen, Hautfarben und so weiter miteinander kombinieren und die Menschen so auf Anhieb in die Schubladen einsortieren zu können, in die sie gehören. Hauptsache, er muss nichts mit ihnen zu tun haben. Was sollte er auch mit „solchen Leuten“ anfangen.

Mit dieser Ansicht ist Newman in seiner Straße in bester Gesellschaft. Seine Nachbarn und Freunde sind ebenfalls penibel darauf bedacht, insbesondere alles Jüdische zu meiden und zu diskreditieren, was vor allem der jüdische Süßwaren- und Zeitungsverkäufer der Straße deutlich zu spüren bekommt. Jüdische Nachbarn werden wie Invasoren behandelt, werden von der sauberen, christlichen, ja arischen Nachbarschaft verächtlich und herablassend behandelt. Und Newman fühlt sich als Arier hier ganz zu Hause – bis zu dem Tag, an dem er auf der Arbeit von seinem Vorgesetzten dazu verdonnert wird, sich endlich eine Brille gegen seine immer stärker werdende Sehschwäche anzuschaffen. Newman hat schon seit Wochen mit sich gehadert, hat Kontaktlinsen ausprobiert, verträgt diese aber nicht, hat eine Brille bestellt, diese aber nie abgeholt; nun aber führt kein Weg mehr daran vorbei: Newman muss eine Brille tragen. Notgedrungen holt Newman seine Brille ab, stolpert nach Hause und setzt sie im heimischen Badezimmer widerwillig auf. Kurz müssen sich seine Augen anpassen, dann aber ist er überaus fasziniert davon, wie klar er seine Umgebung wahrnimmt – selbst die Borsten seiner Zahnbürste sieht er so gestochen scharf wie nie zuvor. Doch dann folgt ein Blick in den Spiegel.

Lange stand er da und starrte auf sein Spiegelbild; auf seine Stirn, sein Kinn, seine Nase. […] Im Spiegel seines Badezimmers, des Badezimmers, das er seit fast sieben Jahren benützte, sah er ein Gesicht, das nicht ohne Berechtigung für das Gesicht eines Juden gehalten werden musste.

Darum hatte Newman sich so lange dagegen gewehrt, die Brille abzuholen, aufzusetzen, auszuprobieren; die Brille steckt Newman, den heimlichen Rassensotierer, in eine Schublade, in die er nicht gehört und schon gar nicht gehören will. Und nicht nur er ist irritiert:

Nach einer Weile rief die Mutter seinen Namen. Er blickte von der Zeitung auf und wandte ihr langsam sein Gesicht zu. Sie musterte es neugierig, wobei sie sich immer weiter vorbeugte. Er lächelte leichthin, als handelte es sich um einen neugekauften Anzug.
‚Mein Gott‘, sagte sie schließlich lachend, ‚du siehst beinahe aus wie ein Jude.‘
Er lachte auch, wobei er das Gefühl hatte, als stünden seine Zähne hervor.

Aber immerhin, die Mutter winkt ab und meint: „Ich denke nicht, dass jemand es bemerken wird.“

Von wegen. Vom nächsten Tag an ist für Newman alles verändert. Misstrauisch wird er von seinen Kollegen, seinen Vorgesetzten, seinen Mitbürgern gemustert – mit der Brille kommt eine Etikettierung, gegen die Newman sich kaum wehren kann. Das Unternehmen, in dem er bisher den Stenotypistinnen vorstand, sägt ihn ab und Newman ist plötzlich mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Denn mit jüdisch aussehenden Personen auf repräsentativen Posten will die Firma nichts zu tun haben. Newmans einziger Rettungsanker ist die Freundschaft zu seinen rassistischen Nachbarn Fred und Carlson, die sich in der antisemitischen „Christlichen Front“ organisieren. Doch wie weit kann die Solidarität der Nachbarn mit dem eigentlich ja „arischen“ Newman denn gehen, wenn er doch so jüdisch aussieht?

Es dauert lange, bis in der Verunsicherung, in die Newman getrieben wird, Einsichten oder gar Reuegefühle zutage treten. Zu sehr klammert er sich an das Wohlbekannte seiner bisherigen Welt fest, will den festen Gefügen seiner Nachbarschaft angehören, auch wenn diese ihn mehr und mehr ausschließt. Krampfhaft versucht er, Mitläufer zu sein, wird aber nicht länger akzeptiert.

Arthur Miller dokumentiert in seinem 1945 erschienenen, einzigen Roman „Fokus“ eine erschreckend offen antisemitische US-amerikanischen Gesellschaft in den Vierzigerjahren. Ausgrenzung und Erniedrigung Außenstehender und offener Rassismus gegenüber allem Jüdischen stehen an der Tagesordnung. Damit einher geht die stets präsente Angst vor der Arbeitslosigkeit nach dem bevorstehenden Ende des Zweiten Weltkriegs und der damit mit Sicherheit einhergehenden Depression. In der sauberen, christlichen Gemeinschaft will man andere im Dreck sehen, um sich selbst besser fühlen zu können. Und die jüdischen Mitbürger bieten hier das perfekte Feindbild, gegen das sich überall im Land Gruppen von Aktivisten gründen – während die Polizei wegschaut.

„Die Polizei weiß, was vorgeht. Es gibt kein Gesetz, das es Menschen verbietet, einander zu hassen.“

„Ich kann bis heute nicht in diesem Roman blättern, ohne erneut die Dringlichkeit zu empfinden, die das Schreiben begleitete“, schrieb Arthur Miller 1984, knapp vierzig Jahre später. „Damals war der Antisemitismus in Amerika meines Wissens literarisch ein wenn nicht tabuisiertes, so doch totgeschwiegenes Thema.“ Und obwohl mittlerweile bereits über siebzig Jahre alt, ist der Roman auch heute noch aktueller denn je. Er ist Spiegelbild einer Gesellschaft von Duckmäusern, von Mitläufern und jenen, die alle Realitäten so filtern, dass sie nur ihre Klischees und ihre vorgefertigte Meinung bestätigt sehen. „Fokus“ seziert die, auch fernab der Südstaaten, zutiefst rassistisch verblendete US-amerikanische Gesellschaft der Kriegszeit. Aber nicht minder hält der Roman auch anderen Gesellschaften, nicht zuletzt der deutschen, den Spiegel vor, bezogen auf die ewige Abgrenzung vor allem Fremden – früher wie heute. Ein Sinnbild, das leider vermutlich auch in Jahrzehnten noch aktuell sein wird, ist doch so viel einfacher, ein vorgefertigtes Bild zu haben, als sich mit dem Fremden auseinandersetzen zu müssen. Denn, so konstatiert Arthur Miller im Vorwort: „In den Spiegel der Realität zu schauen, die unschöne Welt und sich selbst zu erkennen, ist wenig erhebend und erfordert Charakter.“

Wer will das schon. Wer macht sich dafür schon die Mühe.

♠ Arthur Miller: Fokus ist im November 2017 in einer, mit 20 farbigen Holzschnitten von Franziska Neubert illustrierten Ausgabe bei der Büchergilde Gutenberg erschienen (gebunden, mit Lesebändchen, ISBN 978-3864060823, 24,- Euro). Unter der ISBN 978-3596905935 ist der Roman 2015 als Taschenbuch bei Fischer Klassik erschienen, 224 Seiten, 9,99 Euro. ♠

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Kaffee trinken, Leute gucken

Kall in der Eifel, im Jahr 2006: Eine Kleinstadt im Aufruhr – wie elektrisiert: Der Stausee in der Stadt soll vergrößert und ausgebaut werden, soll die Attraktivität des heruntergewirtschafteten Ortes wieder steigern und durch einen Ferienpark Touristen und Wohlstand anziehen. Die Bevölkerung zerteilt sich in zwei Lager von Befürwortern und Gegnern des Projekts. Die „Grauköpfe“, eine eingeschworene Gruppe alternder Männer in Kall, gehören klar zu den Befürwortern. Die Gruppe trifft sich tagtäglich in der Cafeteria des Supermarkts in Kall, um die neuesten Entwicklungen in dem Ort zu besprechen. Nichts entgeht dem tratschenden Gespann, nicht nur bezogen auf die Details zum Stausee, sondern generell: Jede Person, die die Cafeteria betritt, wird eingehend begutachtet und tuschelnd kommentiert, jedes Detail über den See und der neuste Kaller Klatsch und Tratsch landet in der Cafeteria auf dem Tisch der Grauköpfe.

Die Supermarkt-Cafeteria ist Dreh- und Angelpunkt des neuen Romans von Norbert Scheuer, „Am Grund des Universums“. Zahllose Einwohner, Durchreisende, Geschäftsleute, Menschen mit und ohne Namen, passieren das Café, bleiben für einen Tee oder ein belegtes Brötchen, und sind bald wieder fort. Darunter sind teils auch Personen, die – wie zu erwarten war – bereits in anderen Romanen von Norbert Scheuer eine Rolle spielten. Da ist zum Beispiel Paul Arimond, heimgekehrter Afghanistan-Soldat und Protagonist des Romans „Die Sprache der Vögel“, oder Vincentini, der bereits in Scheuers Roman „Peehs Liebe“ eine Rolle spielte. Ihre Geschichten werden nach und nach in den Roman eingewoben, immer im stetigen Szenenwechsel mit der Cafeteria und den neusten Nachrichten vom Stausee-Projekt.

„Am Grund des Universums“ ist streckenweise ein ganzes Konvolut angerissener Geschichten, aus lauter Namen ohne weitere Bedeutung, aus lauter namenlosen Personen, die mit ein wenig Hintergrundgeschichte versehen werden und dann kontextlos wieder davongehen. Damit verflochten wird einerseits das Stausee-Projekt, andererseits Geschichten einzelner Bewohner des Ortes, in denen es oftmals darum geht, dem Alltag zu entfliehen und zu Außergewöhnlichem aufzubrechen, sei es eine Reise in einem Boot quer über den Atlantik, ein Silberschatz in den ehemaligen Bergwerksstollen, ein geheimnisvolles Vermögen in einem Tresor oder eine Reise zum Grund des Universums in einem selbstgebauten Raumschiff.

Doch stetig springt die Handlung wieder zurück in die Cafeteria und wird zu einem seitenlangen „Leute gucken“ aus der Cafétisch-Perspektive. Man könnte meinen, dass es ein Roman ist, wie gemacht für Menschen, die ebenfalls gern in Cafés sitzen und andere Menschen beobachten. Aber leider fällt es schwer, Interesse an den Personen im „Jeder-kennt-jeden-Ort“ Kall zu entwickeln, an den „ganz normalen Leuten“ und ihren nur kurz angerissenen Geschichten. Der Funke vermag nicht überzuspringen. Leider bleibt es bei sehr profanen Beschreibungen, die sich wenig Zeit nehmen für die einzelnen Personen, kaum auf Details eingehen und sich dann sprunghaft den nächsten Personen widmen. Und auch die Rahmenhandlung rund um den Stausee in Kall verleiht dem Roman zwar seinen roten Faden, aber keinen Spannungsbogen. Nur die sich ab und an mit der Realität vermischenden Gedankenspiele einzelner Bewohner Kalls, die aus dem Alltag, der Eintönigkeit entfliehen wollen und sich in unterschiedlichste Szenarien träumen oder auf Schatzsuchen begeben, reißen zwischendurch immer mal kurz aus der nüchternen Schilderung einer allzu unspektakulären Realität heraus. Aber leider nur kurz. Die so einnehmende Poesie der vorangegangenen Romane schimmert leider viel zu selten durch. Schade.

♠ Norbert Scheuer: Am Grund des Universums. C. H. Beck Verlag 2017, 240 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. ISBN: 978-3406711794. ♠

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Ein völlig überdrehtes Jahr – und ein Igel namens Rilke

Was ein Buch – was ein Jahr. Rainer Maria Rilke hat Schnupfen, Thomas Mann ärgert sich über Sitzfalten am Anzug und Franz Kafka erprobt das schriftliche Stammeln. Wir sind im Jahr 1913, im Buch „1913“, in dem Florian Illies das Jahr vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs abbildet, unterteilt in die zwölf Monate des Kalenders.

Es war ein Jahr, das die Schwelle zur Moderne gerade überschritten hatte. Was sind die treibenden kulturellen Kräfte dieses Jahres? Welche großen Werke, Geschehnisse, Skandale haben es geprägt? Ohne sich die Beantwortung konkret zum Ziel gesetzt zu haben, geht Florian Illies genau diesen Fragen nach, indem er die bedeutendsten Vertreter der Zünfte selbst sprechen und agieren lässt, ständig zwischen den Orten, Personen und Kunstszenen hin- und herspringend.

Vom 12-jährigen Louis Armstrong, der gerade in eine Besserungsanstalt gesteckt wird, springt Illies zum Liebesbriefe schreibenden Franz Kafka, um sich dann, jeweils nur kurze Absätze später, weiter zu Stalin, Freud und Rilke zu hangeln. Mit dem humorvollen Unterton des über alle Biografien Erhabenen, der einhundert Jahre später genau weiß, welchen Lauf die Geschichte nach dem Jahr 1913 nahm, porträtiert er zahlreiche Künstlerbiografien und verknüpft sie miteinander. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei zweifelsohne auf der Kulturgeschichte – politische Entwicklungen werden, wie auch Trivia zu sonstigen Themen (seien es Modetipps oder die Eröffnung des ersten Aldi-Marktes) sporadisch eingestreut. Die große Bühne aber gehört der – vornehmlich europäischen – Kunst- und Literaturgeschichte. Illies erschafft so das brillant gelungene Abbild einer schaffenswütigen und umtriebigen Kunstszene.

Wien strotzte vor Kraft, war eine Weltstadt geworden, was man in der ganzen Welt sah und spürte, nur in Wien selbst nicht, dort hatte man vor lauter Lust an der eigenen Selbstvernichtung übersehen, dass man unversehens an die Spitze der Bewegung gerückt war, die sich Moderne nannte.

Während Oskar Kokoschka vor Eifersucht in Raserei gerät, kündigt ein gekränkter Sigmund Freud seinem ehemaligen Schüler C.G. Jung postalisch den Kontakt auf („Wer aber bei abnormen Benehmen unaufhörlich schreit, er sei normal, erweckt den Verdacht, dass ihm die Krankheitseinsicht fehlt. Ich schlage Ihnen also vor, dass wir unsere privaten Beziehungen überhaupt aufgeben.“). Franz Kafka wird von Selbstzweifeln zermartert, der 15-jährige Bertolt Brecht veröffentlicht seine eigene Schülerzeitung, Gottfried Benn hat keine Lust mehr auf Leichenseziererei und Rainer Maria Rilke möchte sich zusammenrollen und ein Igel sein.

So prallen Ernst und Anekdote unmittelbar aufeinander. Illies‘ Quellen sind Tagebucheinträge, Briefwechsel, Biografien, Zeitungsberichte und dergleichen, die er mit einer kleinen Prise eigener Was-wäre-wenn-Fiktion garniert:

Stalin geht durch den Park, denkt nach, es dämmert schon. Da kommt ihm ein anderer Spaziergänger entgegen, 23 Jahre alt, ein gescheiterter Maler, dem die Akademie die Aufnahme verweigerte und der nun die Zeit totschlägt im Männerwohnheim in der Meldemannstraße. Er wartet, wie Stalin, auf seine große Chance. Sein Name ist Adolf Hitler. Vielleicht haben sich die beiden, von denen ihre Bekannten aus dieser Zeit erzählten, dass sie beide gerne im Park von Schönbrunn spazieren gingen, einmal höflich gegrüßt und den Hut gelüpft […].

Vielleicht. Später sinniert Illies darüber, wie die stolzen Eltern Friedrich und Franziska Braun ihr sechs Monate altes Töchterchen Eva im Kinderwagen durch München spazieren fahren, während der nun 24-jährige erfolglose Maler Hitler im Mai just in dieselbe Stadt zieht.

Mit kuriosesten Fakten aus den unterschiedlichen Lebensläufen versehen, blickt „1913“ auf die nach vorn treibende künstlerische Avantgarde, auf Kubismus, Futurismus, Expressionismus, auf erste literarische Gehversuche wie auf etablierte Meister ihres Fachs, auf Schaffenskrisen und wechselnde Gesundheits- und Gemütszustände. Nicht zuletzt durch Illies‘ humoristisches Erzähltalent wirkt es manchmal fast, als sei die intellektuelle Avantgarde des Jahrs 1913 die meiste Zeit entweder verkorkst, depressiv, verkopft oder einfach völlig kopflos durch die Weltgeschichte gerannt. Zeitgleich ist „1913“ aber auch eine tiefe Verbeugung vor der Kunst, der Literatur, dem Theater, der Musik dieser Epoche.

Wie in einem Kaleidoskop tanzen die verschiedensten Biografien umeinander, vermengen sich, überschneiden sich, verbinden sich zu einem grandiosen Gesamtkunstwerk. „1913“ macht Lust auf mehr, auf die Romane, die Bilder, die Filme, die Musik dieser Zeit, die Briefwechsel, die Tagebücher, die Biografien. – Hinten angefügt winken fünf verheißungsvolle Seiten kleingedruckter Auswahlbibliografie. Das könnte teuer werden. Das könnte sich lohnen. Eines zumindest steht fest: „1913“ lohnt sich in jedem Fall.

Es ist ein völlig überdrehtes Jahr. Kein Wunder also, dass der russische Pilot Pjotr Nikolajewitsch Nesterow mit seinem Kampfflugzeug 1913 den ersten Looping der Menschheitsgeschichte flog.

Würde Illies doch nur das gesamte 20. Jahrhundert durchbiografieren.

♠ Florian Illies: 1913: Der Sommer des Jahrhunderts. S. Fischer 2012, 320 Seiten, gebunden, 12,- Euro. ISBN: 978-3596520534 / Taschenbuch, 10,99 Euro. ISBN: 978-3596193240. ♠

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Wir atmen nicht.

Auf zwei etwas abgeschieden liegenden Höfen in der wohl polnischen Provinz wird eine Familie Opfer der Pogrome des Zweiten Weltkriegs. Sie erlebt, wie sich die ehemaligen Nachbarn und Freunde der Familie gegen sie wenden, wie ein Misstrauen, das seit längerem schon gewachsen ist, umschlägt in blinden Hass und in Gewalt, sobald die politischen Rahmenbedingungen dies möglich machen.

Der Roman „Nahe Jedenew“ beginnt mittendrin, mit den drei Worten Wir atmen nicht. „Wir“, das sind vor allem zwei sechzehnjährige Mädchen, Schwestern, die in der Nacht, in der die Jedenewer Bauern kommen, in ihr Baumhaus in der Nähe der zwei Höfe flüchten. Von dort aus sehen sie zu, wie die Bauern und Soldaten das eine Haus plündern und das andere Haus abbrennen. Sie sind der Mittelpunkt dieses nur knapp 140 Seiten langen Romans, sind das Zentrum des Taumelns zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das diesen Roman ausmacht: Wie in einem Delirium, in dem sich keines der Mädchen eingestehen will, was gerade passiert, fallen beide immer wieder zurück in Erinnerungen aus den vergangenen Sommern, den vergangenen Wintern, den vergangenen Wochen und Tagen, dem vergangenen Abend, an dem alles noch in Ordnung zu sein schien, an dem die Familie noch vollzählig, die Fenster noch nicht zersprungen, der Hof noch nicht verbrannt war.

Gegenwart und Vergangenheit fließen in den teils viele Zeilen langen Sätzen ineinander, kreisen immer wieder um die gleichen Gedanken und Erinnerungen. Durch die stetigen Wiederholungen einzelner Satzteile oder ganzer Sätze verdeutlicht sich das Panikgefühl der beiden Mädchen, verdichtet sich die bedrohliche Atmosphäre, in der sich die beiden befinden und sich zurück in alte, unbefangene Zeiten sehnen. Die Zeiten fließen mitten im Satz ineinander und durch den konstanten Gebrauch des Präsens verschwimmt alles zu einer einzigen Zeitebene, in der Vergangenes und Gegenwärtiges parallel zueinander zu existieren scheinen. Nach und nach werden dabei immer neue Fragmente freigelegt, die die abgründige Situation immer deutlicher hervortreten lassen.

Nachts klirren die Fenster in der Küche, dann klirrt jedes einzelne Fenster im Haus. Abends sitzen wir hinterm Haus in der Hochsommerabendsonne auf dem schmalen Holzsteg, der auf den Teich hinterm Haus hinausführt, und sitzen und liegen und schwimmen in der Sonne und sitzen lesend zusammen und trinken die erste und letzte Sommerbowle des Jahres, schwimmen und bespritzen uns gegenseitig mit Wasser, nachts hocken wir in Badeanzügen in die Speisekammer gedrängt.

In der Gedankenwelt der beiden Mädchen befindet sich der Leser mitten im Trauma. Er sieht mit an, wie die Jedenewer Bauern die Tante und die kleine Nichte der beiden Mädchen im Teich ertränken, er erahnt die anderen Gräueltaten, aber er wird mitgewirbelt vom Strudel des Ausblendens, des Überblendens in friedliche, schönere Zeiten.

„Nahe Jedenew“ ist auf seinen wenigen Seiten ein unglaublich sprachgewaltiges Stück Prosa, das mit einem kleinen Fragment, dem Losbrechen der Pogrome gegen jüdische Mitbürger in Polen, eindringlich widerspiegelt, welche Leiden Krieg und Verfolgung, welche Leiden Menschen über andere Menschen bringen können. Durch Anspielungen auf jiddische wie auch katholische Traditionen porträtiert Vennemann eine Familie, die im Sog der Zeit versucht, sich religiös und kulturell zu verorten, die in den lauten Umbrüchen der Gesellschaft in ihren eigenen Traditionen immer leiser werden muss. Durch das „Wir“ der zwei Protagonistinnen erzeugt er ein Kollektiv, das ratlos auf die Geschehnisse schaut, das von den Ereignissen der Geschichte rücksichtslos und brutal überrannt wird. Er zeigt auf, wie Menschen politische Umbrüche für eine willkürliche, eigennützige Tabula Rasa nutzen, wie niedere Beweggründe wie Rache, Misstrauen und Geldschulden in blindem und brutalem Hass gipfeln. Die Schilderung der Geschehnisse aus der Sicht zweier sechzehnjähriger Mädchen, die mit den politischen Umwälzungen rein gar nichts zu tun haben, die sich in die heile Vergangenheit zurücksehen und die mit Veränderungen in ihrem Leben grundsätzlich noch nie gut umgehen konnten, macht den Roman nur umso eindringlicher. Ein furioses Stück Literatur.

♠ Kevin Vennemann: Nahe Jedenew. Suhrkamp 2005, 144 Seiten, broschiert, 8,- Euro. ISBN: 978-3518124505. ♠

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Selfies aus der Todeszone

Sie ist schon eine besondere Person, die Baba Dunja. Selbstdiszipliniert und genügsam, ein wenig streng, aber dennoch gutmütig, lebt sie in einem Ort ohne Zukunft: in Tschernowo. Nachdem vor dreißig Jahren eine Reaktorkatastrophe das Land verseuchte, floh Baba Dunja gezwungenermaßen in die nächstgrößere Stadt, hielt es dort aber nicht allzu lange aus. Seit knappen 18 Jahren ist sie zurück in der Todeszone, ignoriert sämtliche Warnungen und Bitten ihrer nach Deutschland ausgewanderten Tochter, sie möge doch aus dem verstrahlten Gebiet wegziehen, und führt in der Abgeschiedenheit Tschernowos ein ruhiges, geradezu aus der Zeit gefallenes Leben. Sie ist zufrieden damit und genügsam mit dem wenigen, das sie hat. Hauptsächlich versorgt sie sich aus dem eigenen Garten, nur alle paar Wochen oder Monate, wenn es gar nicht anders geht, nimmt die über 80-Jährige die stundenlange Reise in die nächstgelegene Stadt auf sich, um notwendige Besorgungen zu machen. Baba Dunja mag diese Ausflüge nicht im Geringsten. Nur im von der Außenwelt abgeschotteten Tschernowo fühlt sie zu Hause, fühlt sie sich glücklich.

Sie war die Erste, die zurückkam. Eine Handvoll Menschen tat es ihr später gleich und seit einigen Jahren bewohnt somit eine gleichzeitig distanziert-eigenbrötlerische wie auch in der Abgeschiedenheit eng zusammengeschweißte Dorfgemeinschaft einige wenige Häuser der Geisterstadt Tschernowo. Als Erste, die zurückzog in die Todeszone, ist Baba Dunja außerhalb von Tschernowo eine Prominente. Das kümmert sie allerdings wenig. Alle paar Monate besuchen Fotografen, Reporter oder Biologen die Todeszone, wandeln in Schutzanzügen umher – doch Baba Dunja und die anderen Einwohner Tschernowos nehmen kaum Notiz von ihnen. Sie alle sind schon längst alt und gebrechlich, allesamt sind sie dem Trubel der restlichen Welt entrückt und genießen die trügerische Idylle der verstrahlten Abgeschiedenheit – bis ein Fremder mit einem kleinen Mädchen in die radioaktive Todeszone kommt.

Ähnlich wie in „Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche“ setzt Alina Bronsky im nun als Taschenbuch erschienenen Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ eine spleenige, betagte Dame als Ich-Erzählerin ein, deren pragmatische Einstellung zum Leben den humorvollen Erzählstil prägt. Nur scheinbar bleiben Baba Dunjas Betrachtungen oberflächlich und alltagsbezogen, kunstvoll spielt die Autorin immer wieder auf die heiklen Themen an, von der Reaktorkatastrophe über die Tragik einer Familiengeschichte bis hin zur politischen Situation zwischen der Ukraine und Russland. Dass das Gebiet, auf dem der fiktive Ort Tschernowo steht, auf viele Jahrzehnte hin verstrahlt bleiben wird, ist Baba Dunja egal. Anstatt besorgt zu sein, freuen sich die Dorfbewohner über überdurchschnittlich großes Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Die allgegenwärtige Strahlung bedeutet Baba Dunja nichts – zumindest nicht bezogen auf ihr eigenes Leben.

Ich habe alles gesehen und vor nichts mehr Angst. Der Tod kann kommen, aber bitte höflich.

Nur die Toten, die überall wandeln, erinnern durch ihre Anwesenheit immer wieder an die Katastrophe. Aber auch sie gehören für Baba Dunja wie selbstverständlich dazu.

Das mit dem Himmel habe ich nur so gesagt. Ich glaube nicht daran. Das heißt, ich glaube schon an einen Himmel, der über unseren Köpfen ist, aber ich weiß, dass unsere Toten nicht dort sind. […] Unsere Toten sind unter uns, oft wissen sie nicht einmal, dass sie tot sind und dass ihre Körper in der Erde verrotten.

So stehen sie also am Gartenzaun, sitzen im Wohnzimmer, gehen über die Straße, mal schweigend, mal sprechend. Für Baba Dunja sind sie gleichrangige Bewohner Tschernowos.

Ein wenig erscheint Baba Dunja wie das Klischeebild der strengen und genügsamen Großmutter, das Paradebeispiel einer etwas schnodderigen, abgeklärten Oma, unbelehrbar und abgehärtet. Dennoch hat man sie direkt ins Herz geschlossen, sobald ihr auf den ersten Seiten der nervtötende Hahn der Nachbarin tot vor die Füße kippt. Ihre Abkehr von der technisierten, schnellen Außenwelt ist wohltuend – und auf eine schräge Art und Weise wird nachvollziehbar, dass sie sich lieber von dem Trubel abwendet und zurück in die verstrahlte Todeszone zieht.

Was ich in Tschernowo niemals gegen fließend Wasser und eine Telefonleitung eintauschen würde, ist die Sache mit der Zeit. Bei uns gibt es keine Zeit. […] Zwischendrin vergessen wir, dass es noch die andere Welt gibt, in der die Uhren schneller gehen und wo alle schreckliche Angst vor dieser Erde haben, die uns ernährt. Diese Angst sitzt tief in den anderen Menschen, und die Begegnung mit uns bringt sie an die Oberfläche.

Trifft die ängstliche, im Gegenzug aber internetverseuchte Instagram-Außenwelt dann plötzlich auf die bodenständige Baba Dunja, um schnell ein verstrahltes Selfie zu machen, wird die Todeszone plötzlich ungemein attraktiv. Einer von vielen Kunstgriffen in „Baba Dunjas letzte Liebe“, der Alina Bronksy unheimlich gut gelingt.

♠ Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Kiepenheuer & Witsch 2017, 160 Seiten, broschiert, 8,- Euro. ISBN: 978-3462050288. (Jahr der Erstausgabe: 2015.) ♠

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Das Haus, das Verrückte macht

Nicht selten bringen einen Bücher um den Schlaf, brennt die Leselampe länger als eigentlich geplant, wacht man morgens auf, ärgert sich über die kurze Nacht und freut sich dennoch gleichzeitig über das Gelesene. Und: Manche Bücher sind heimtückisch. Sie haben beispielsweise einen Autor, dessen Name allein bereits Gutes verheißt und der wegen seiner famosen Texte große Erwartungen weckt. Sie sehen ganz unscheinbar aus, der Klappentext verrät nicht allzu viel und der Titel wirkt beliebig, könnte alles bedeuten. Man fängt an zu lesen, versinkt von Seite zu Seite tiefer in der Geschichte, wird dann plötzlich von einem Genre überrascht, mit dem man wirklich nicht gerechnet hätte und muss weiterlesen und durchhalten und weiterblättern und zu Ende lesen, weil an ein Weglegen des Buches und an Schlaf gar nicht zu denken wäre.

„Du hättest gehen sollen“ ist eines dieser Bücher. Der Autorenname, Daniel Kehlmann, lässt unmittelbar an „Die Vermessung der Welt“ denken, verheißt Großes. Der Klappentext bleibt vage, das Cover ist völlig austauschbar, der Titel ganz harmlos. „Du hättest gehen sollen“. Könnte alles sein. Aber.

Die Grundlage der Erzählung bildet das Notizbuch eines namenlos bleibenden Drehbuchautors. Mit einer Komödie namens Allerbeste Freundin hatte er großen Erfolg und hat sich nun, begleitet von seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter, via AirBnB in einem Haus weit oben in der Einöde namenloser Berge eingemietet, um an einer Fortsetzung dieses scheinbar völlig anspruchsfreien Films zu arbeiten. Die Ideenschnippsel, die ihm dabei in den Sinn kommen und die er beflissen in sein Notizbuch schreibt, lassen an möglichen Blockbuster-Qualitäten von Allerbeste Freundin II stark zweifeln. Hier und da schreibt er einen Satz nicht zu Ende, fängt neue an, testet Formulierungen aus und dokumentiert nebenbei, was um ihn herum und in dem Haus auf der Alm passiert.

Gerade hat die Sonne sich hinter der Wolke hervorgeschoben, sodass der Himmel nun in schmerzhafter, gleißender, herrlicher Helligkeit zerrinnt.

Oder sind das zu viele Metaphern? […] Aber in schmerzhafter, gleißender, herrlicher Helligkeit, nicht schlecht.

– Äh, doch.

Im Notizbuch dokumentiert er neben seinen schlechten Plotideen auch die kleineren und größeren Streitereien mit seiner Frau, das muntere Geplapper der Tochter, den Alptraum der ersten Nacht im Ferienhaus und schließlich die erste Fahrt hinunter ins Dorf, viele Serpentinen weit nach unten, wo er in einem winzigen Laden seine Einkäufe macht und vom Ladeninhaber auf merkwürdige Art und Weise nach seiner Unterkunft oben auf dem Berg ausgehorcht wird. „Schon was passiert?“ Die einzige Kundin, die mit ihm einkauft, warnt ihn, schnell wegzugehen. Er ist irritiert, fragt nach, bekommt keine Antwort, schiebt es auf den starken Dialekt der Frau und geht davon aus, sich einfach verhört zu haben.

Wieder oben auf dem Berg angekommen, beginnen die Dinge, seltsam zu werden: Das Haus hat plötzlich mehr Räume, die er vorher gar nicht gesehen hatte. An den Wänden hängen Bilder, die vorher nicht dort waren. Wände sind weiß und ohne Nagel, an denen vorher definitiv Bilder hingen. Er hat Alpträume. Und sein Spiegelbild fehlt plötzlich und ist dann wieder da. Auch wenn er es sich direkt nach dem Schreiben selbst schon nicht mehr glaubt, versucht er, die Geschehnisse so gut es geht in seinem Notizbuch festzuhalten:

Jetzt habe ich
Ich muss das abschreiben.
Aber schnell, bevor

Und zehn Seiten später:

Ich muss es aufschreiben, um nicht verrückt zu werden.

Immer mehr Sätze werden nun nicht mehr beendet, immer besorgter, verwirrter, panischer wird der Schreiber, während die Handlung immer schneller und abgründiger die einsamen Berghänge hinabtrudelt.

Daniel Kehlmann spielt in „Du hättest gehen sollen“ gekonnt mit altbekannten Motiven des subtilen Horrors, die man aus diversen Genrefilmen kennt, von Shining über Cube bis Paranormal Activity. Die Stilmittel sind nicht neu, werden in der kurzen, keine 100 Seiten langen Erzählung aber gekonnt genutzt und schaffen so eine dichte, fesselnde Atmosphäre, die bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt. Selten war ein Lesebändchen so überflüssig wie an diesem Buch – man kann es ja sowieso nicht aus der Hand legen.

♠ Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen. Rowohlt 2016, 96 Seiten, gebunden, 15,- Euro. ISBN: 978-3498035730. ♠

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„Und keiner von Euch hatte Recht und keiner Unrecht.“

Syrien im Jahr 2012. Yasmin leitet in einer Stadt im Norden ein geheimes Krankenhaus, das „Freedom Hospital“, in dem verletzte Rebellen versorgt werden. Demonstrationen gegen das Regime sind an der Tagesordnung. Die Zuversicht, dass das Regime bald gestürzt wird, ist anfangs noch vorhanden, schwindet aber bald mehr und mehr. Panzer, Raketen und Luftangriffe zerstören nach und nach jede Normalität in der Stadt.

„Freedom Hospital“ zeichnet die Geschichte mehrerer sehr unterschiedlicher Personen nach, deren Leben miteinander verwoben sind und die einander beeinflussen:

Neben Yasmin ist dort zum Beispiel Yasmins Freundin Sophie. Sie wurde in Damaskus geboren, ist aber bereits im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie nach Frankreich ausgewandert, hat dort Politikwissenschaften studiert und ist Journalistin geworden. Nun kehrt sie nach Syrien zurück, um im Geheimen einen Dokumentarfilm über das Freedom Hospital und den syrischen Bürgerkrieg zu drehen.

Da ist außerdem Walid Abu Qatada, ein ehemaliger Taxifahrer, der sich den Rebellen anschließt, schwer verletzt im Freedom Hospital landet und sich den Dschihadisten zugehörig fühlt.

Oder Abu Taysir, der die Verantwortung für die lokale Miliz der Freien Syrischen Armee trägt: Ihm wird vorgeworfen, dass er es hinnimmt, dass im Kampf gegen das Regime auch unschuldige Zivilisten unter den Opfern sind, getötet von der Freien Syrischen Armee.

Oder Zahabiah und Hawal: Sie lieben einander und würden gern heiraten, können dies aber nicht, da Zahabiahs Vater seine Tochter anderweitig verheiraten will.

Wie Puzzlestücke versammeln sich die insgesamt zwölf Charaktere, die zu Beginn der Erzählung vorgestellt werden, um die Geschichte, setzen sich in ihrem Verlauf der Handlung aber nur mühsam zu einem großen Ganzen zusammen. Ohne eine erzählende Stimme, die die Handlung in einen größeren Kontext einordnet, verfolgen wir die Geschehnisse rund um das Freedom Hospital und die Personen, deren Geschichten mit dem Untergrund-Krankenhaus zusammenhängen. Andeutungsweise erkennt man die Konfliktlinien und auch die gesellschaftlichen Korsette, in denen die verschiedenen Charaktere feststecken. Und auch die Verschiedenheit der Fluchtmotivationen wird so angedeutet: mangelnde Zukunftsperspektiven, fehlende Sicherheit durch ständig präsente Gewalt, gesellschaftliche Probleme wie jene von Zahabiah und Hawal.

Die Handlung wirkt teilweise wie zersprengt, Unterhaltungen zwischen den einzelnen Charakteren erscheinen oft sehr oberflächlich und wenig authentisch. Dazu kommt ein teils sehr minimalistischer, wenig detailreicher Zeichenstil. Die einzelnen Personen sind oft nur schemenhaft gezeichnet, sodass man sie manchmal kaum voneinander unterscheiden kann – das macht es bei insgesamt Haupt- und Nebencharakteren nicht gerade einfacher, der Handlung zu folgen.

All das schwächt die Schlagkraft der Graphic Novel zu diesem wichtigen und aktuellen Thema leider deutlich. Erst mit dem Nachwort versteht man die Intention von „Freedom Hospital“ ein wenig besser. „Ich habe beschlossen, Freedom Hospital zu schreiben, um die Situation aus meiner Sicht darzustellen, nicht, um sie zu erklären. Ich versuche nicht, neutral zu sein, und gebe nicht vor, die Realität exakt wiederzugeben, nein, ich musste einfach all das hinausschreien, was mir seit Beginn der Revolution im Hals stecken geblieben war“, schreibt Hamid Sulaiman dort. Sulaimans auf knapp einer Seite zusammengefasste Erläuterungen dazu, welche Absichten er mit der Graphic Novel hatte, wären als Vorwort eindeutig hilfreicher gewesen, auch um beim Leser Irritationen und vielleicht auch Frustration über den wenig stringent erscheinenden Erzählstil zu vermeiden.

„Freedom Hospital“ gewährt einen interessanten Einblick in die Lage in Syrien zu Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2012, geschrieben und gezeichnet von einem Maler und Illustrator, der selbst 2011 von Syrien nach Frankreich geflohen ist. In der drastischen Schilderung von eskalierenden Demonstrationen, Unterdrückung, Folter und Erschießungskommandos, durch die „Stimme aus dem Off“, die allein dafür da ist, Waffen- und Kampfflugzeuge nach Typ und Herstellungsort zu beschreiben und die Zeitangabe mit der Zahl der Toten, die der Krieg in der Zwischenzeit eingefordert hat, zu verbinden, hat „Freedom Hospital“ einige starke Momente. Insgesamt bleibt es aber eine Geschichte, in der fühlbar deutlich mehr Potenzial steckt als tatsächlich herausgearbeitet wird.

♠ Hamid Sulaiman: Freedom Hospital. Hanser Verlag 2017, 288 Seiten, Taschenbuch, 24,- Euro. ISBN: 978-3446255081. ♠

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Die Bändigung des Elefanten

Es gibt Bücher, die liest man wie im Rausch, die fesseln einen an sich und lassen nicht mehr los bis zur letzten Seite – oder noch über diese hinaus. Sie schlagen ein wie Bomben, sie beschäftigen so sehr, dass sie Gesprächsstoff werden für viele Stunden weit ausschweifender Unterhaltungen, weil sie die eigenen Gedanken so sehr umklammern und beflügeln.

Auch „Die Welt im Rücken“ ist eines dieser Bücher. Es fesselt, es bindet, es krallt – und gleichermaßen beklemmt, verstört und zerreißt es. „Die Welt im Rücken“ ist beeindruckend und gleichzeitig völlig niederschmetternd. Es ist der Versuch des Autors und gleichermaßen Ich-Erzählers Thomas Melle, seine bipolare Erkrankung begreifbar zu machen. Es ist der Bericht eines Manisch-Depressiven, der sein Seelenleben in aller Ausführlichkeit seziert. Stück für Stück tastet sich Melle dabei an das eigentlich kaum Fassbare in seinem Inneren heran, an die Lebensumstände und Gedankenkonstrukte, die ihn nach und nach in eine paranoide Psychose treiben, ihn wahnsinnig werden lassen.

Es ist nicht einfach, diese Art von Wahn anschaulich zu beschreiben, denn es gibt da nichts Anschauliches.

Und doch gelingt Thomas Melle genau das – und das erschreckend gut. Er zeichnet nach, wie in ihm, dem jungen Schriftsteller und Literaturstudenten, durch Textveröffentlichungen und Diskurse im ebenfalls noch jungen Internet Ende der 1990er Jahre eine immer stärker werdende Geltungssucht erwächst, die krampfhaft nach einer Bühne zur Selbsterhöhung sucht. In Internetforen trifft er auf andere Literaten und fängt an, in deren Texten Anspielungen auf sich selbst zu sehen, erkennt sich als literarische Vorlage wieder. Interpretationen, aus denen schnell Überinterpretationen werden.

Die Romantik des Irren, etwas Besonderes zu sein: Wurzel allen Irrsinns.

Die Vorstellung, dass er die Inspirationsquelle aller anderen ist, lässt ihn nicht mehr los – und nach und nach sieht er nicht nur in literarischen Texten Hinweise darauf, sondern faktisch überall. Die Reklame, die ihn von den Wänden her auslacht, meint nur ihn, die Nummernschilder der Autos übermitteln ihm Botschaften, die Schlagzeilen in Zeitungen beziehen sich auf ihn, das ganze Weltgeschehen dreht sich ausschließlich um ihn.

Sein Wahn treibt immer skurrilere Blüten, bis Melle sich irgendwann als den Messias höchstselbst ansieht. Er entrückt der Welt immer mehr und handelt immer weniger nachvollziehbar, rennt scheinbar ziellos durch die Stadt und redet wirr Passanten an, stört Konzerte, Lesungen, Theaterproben, stößt Freunde vor den Kopf durch sein abstruses Verhalten, zerstört Wohnungen, schreit, wütet, rastet aus. Manie. Paranoia. Psychose.

Das Drama, das eine erste Psychose auslöst, ist erheblich. Für einen selbst ist es ein unbegreiflicher, allumfassender Kick, der einen in himmelschreiende Sphären schleudert; für Freunde und Familie ist es die blanke Tragödie. Aus dem Nichts wird da einer, den man anders kennt, verrückt, buchstäblich verrückt, und zwar genauer, realer, peinlicher, als es in den Filmen, den Büchern gezeigt wird, wird wahnsinnig wie ein wildäugiger Penner, der den Straßenverkehr beschimpft, wird dumm, töricht, unheimlich. Aus dem Nichts wird der Freund zum Fremden an sich.

Als irgendwann der „klare Verstand“ wieder in ihm aufflackert und ihn erkennen lässt, wie weit neben der Spur er sich befindet, wohin die Manie ihn getrieben hat, reißt ihn diese Erkenntnis unmittelbar in den Abgrund – auf die andere Seite der bipolaren Erkrankung: die Depression. Das Bewusstsein all seiner Handlungen und Peinlichkeiten wird unerträglich, lähmt ihn, stürzt ihn in Suizidgedanken.

Wahn, Depressionen und „vorübergehende Heilung“ wechseln einander ab. Insgesamt drei, jeweils monatelang anhaltende Manien mit darauffolgenden Depressionen bilden die drei großen Kapitel dieses Buchs, das kein Roman ist, sondern der autobiografische Tatsachenbericht eines Manisch-Depressiven. Die rasante Achterbahnfahrt seiner Psyche bringt Melle ein ums andere Mal in die Psychiatrie, aus der er sich gegen den ärztlichen Rat ein ums andere Mal selbst entlässt. Der Taumel geht weiter.

„Die Welt im Rücken“ ist ein 350 Seiten starker Krankheitsbericht, mit dem Melle sich erklären und gleichzeitig freischreiben will von dem Ballast seines ‚ganzen verfluchten Lebenskomplexes‘, wie er es nennt.

Im Englischen gibt es die bekannte Wendung ‚the Elephant in die Room‘. Sie bezeichnet ein offensichtliches Problem, das ignoriert wird. Da steht also ein Elefant im Zimmer, nicht zu übersehen, und dennoch redet keiner über ihn. […] Meine Krankheit ist ein solcher Elefant. Das Porzellan (um ihn gleich durch sein zweites Bild stampfen zu lassen), das er zertreten hat, knirscht noch unter den Sohlen. Was rede ich von Porzellan. Ich selbst liege drunter.

„Die Welt im Rücken“ ist die versuchte Bändigung des Elefanten. Melle beschreibt und analysiert alles, auch die peinlichsten Handlungen, zu denen sein Wahn ihn getrieben hat – stets verbunden mit der Scham der Retrospektive, aber ohne Rücksicht auf Verluste gegenüber der eigenen Reputation als Schriftsteller und als Mensch. Dabei hält er nicht nur sich selbst den Spiegel vor, sondern dem Leser, der Gesellschaft, dem Literaturbetrieb, dem Internet gleich mit. Melle arbeitet den schmalen Grat zwischen dem, was noch als exzentrisch gelten kann und dem Wahn heraus. Er zeichnet diese Grenze nach bis er sie schließlich durchbricht.

„Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik“, schreibt Melle zu Beginn. Und doch erreicht er durch seine Schonungslosigkeit genau das: ein eindringliches, drastisches Porträt eines zerrissenen, zersprengten Seelenlebens. „Die Welt im Rücken“ lässt den Leser zum Buch fliegen wie die Motte zum Licht, es erzeugt einen Sog, der für manchen vielleicht sogar gefährlich sein kann, dem man aber kaum entkommt.

♠ Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt Verlag 2016, 352 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. ISBN: 978-3871341700. ♠

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Immer mitten in die Fresse rein

Ich wärme meinen neuen Zahnschutz in der Hand an. Wende ihn mit den Fingern und presse ihn etwas zusammen. So mache ich es vor jedem Kampf.

Heiko ist nervös. Gemeinsam mit seinem Onkel und Freunden fährt er im 15-Mann-Trupp nach Olpe, um sich dort mit Kölner Hooligans ein Match zu liefern. Und das erste, was der unbedarfte Leser lernt, ist: Hooligans verabreden sich zum Prügeln. Und: Es gibt Regeln. Gleiche Anzahl an Kontrahenten, keine Waffen und auf dem Boden liegende Gegner werden nicht weiter geschlagen, es sei denn, sie stehen wieder auf. Alles klar. Willkommen – fast – ganz unten.

Mit seinem Debütroman „Hool“ hat der Autor Philipp Winkler den Vorhang geöffnet zu einem Milieu, das gern in der Presse Schlagzeilen zu Ausschreitungen rund um Fußballspiele macht, das trotz allem aber den Eindruck einer rigoros geschlossenen Gesellschaft macht.

Es gibt einige Klischees, denen „Hool“ entgegentritt. Protagonist Heiko hat sich zwei Mal am Abitur versucht, bevor er in der Schule gänzlich gescheitert ist. Immerhin. Sein Kumpel Kai studiert BWL und denkt über ein Auslandssemester nach. Heiko war Zivi und nicht beim Bund. Viele Hools hassen Neonazis. Fußball ist für manche noch ein Thema. Für die meisten allerdings nicht mehr. Am liebsten haut man sich einfach aufs Maul. Weil das irgendwie immer schon so war. Weil Matches zwischen Städten und damit zwischen den Anhängern der verschiedenen Fußballvereine noch Jahrzehnte später als epische Kämpfe gefeiert werden.

Aggressionen, Gewalt, Verletzungen, Rache – eine Abwärtsspirale, die auch Heiko langsam aber sicher immer weiter mit sich nach unten zieht. In Rückblenden blickt er auf einschneidende Ergebnisse in seinem Leben, auf Streit, Geschrei und zerbrochene Familien, auf gescheiterte Beziehungen, auf Todesfälle im Familien- und Freundeskreis, auf Gewaltexzesse, auf die alle miteinander verbindende Leidenschaft Fußball. Hannover 96, das lernt Heiko schon früh von seinem Vater, „das is‘ was“.

Und dieser Ersatzreligion, dem Fußball und der Gewalt, gibt Heiko sich hin. Eigentlich läuft alles gut. Sein Onkel lässt ihn Matches organisieren, er scheint ihn innerhalb des autoritär geführten Trupps befördern zu wollen. Heiko wagt, angespornt von seinen Freunden, eigene Guerilla-Aktionen gegen andere Gruppen: Hannoveraner gegen Braunschweiger Hools. Er lebt von Gelegenheit zu Gelegenheit, von Match zu Match – und erst spät realisiert er, dass seine Freunde nach und nach versuchen, sich den Gewaltexzessen zu entziehen. Andere Ziele im Leben verfolgen wollen. Und Heiko, der es hasst, wenn sich alles ändert, fühlt sich in seinen Aggressionen und seiner Ziellosigkeit alleingelassen. Er, der sonst nichts hat.

„Hool“ schafft den Spagat, Einblicke in ein gewalttätiges Milieu zu schaffen, ohne dabei große Sympathien für die Protagonisten zu wecken. Der Roman räumt mit diversen Klischees auf, bestätigt viele andere und gibt Einblicke in den Alltag von Menschen, deren Tag mit einem Guten-Morgen-Bierchen beginnt und vielleicht im Krankenhaus endet, die zwischen Boxsack, Anabolika, Drogenhandel und skurrilsten Tierkämpfen nach einem Sinn im Leben suchen.

Ich weiß selber nicht so recht, warum ich überhaupt aufgestanden bin und wie ein Getriebener durch die Nacht fahre. Vielleicht weil ich irgendwo landen will, wo ich das Gefühl habe, angekommen zu sein. Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich einfach zu besoffen.

Und auch wenn die Geduld beim Lesen durch Heikos wildes Potpourri an platter, vulgärer Ausdrucksweise oder durch allzu langweilig-fäkale Berichte wie dem seines Stuhlgangs in eiligen Situationen durchaus strapaziert werden kann: lohnt sich, der Roman.

♠ Philipp Winkler: Hool. Aufbau Verlag 2016, 310 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. ISBN: 978-3351036454. ♠

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Friss oder stirb

„Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar.“

Wenn es nach ihrem Ehemann Chong geht, ist Yong-Hye vollkommen ordinär, sie ist das Paradebeispiel des Mittelmaßes. Sie ist unauffällig, nicht übermäßig attraktiv, kleidet sich schlicht und farblos. Daher sieht Chong auch, wie er es selber formuliert, keinen Grund, sie nicht zu heiraten. Denn das Mittelmaß ist für Chong genau das Richtige. Er muss sich für eine solche Frau nicht unnötig anstrengen, muss sich nicht unter Druck gesetzt fühlen, selbst an seinem Äußeren zu arbeiten, weil die Ansprüche seiner Partnerin zu hoch sind. Er hat endlich eine Frau, die keine Ansprüche hat, aber auch zum Lebensunterhalt beiträgt und die ihm ohne zu murren das Essen macht. Yong-Hye ist Chongs perfektes Mittelmaß – bis sie sich eines Tages dazu erdreistet, Vegetarierin zu werden. Mit einem Mal steht Chongs völlig gewöhnliches Leben komplett auf dem Kopf. Seine Frau schmeißt alle tierischen Produkte weg, waren sie auch noch so teuer, er bekommt nur noch vegetarisches Essen vorgesetzt, beschwert er sich auch noch so vehement, und kein Protest, kein Vorwurf, kein Gebrüll hilft, Yong-Hye umzustimmen.

Chong ist außer sich und fühlt sich von seiner Ehefrau plötzlich völlig entfremdet. Er alarmiert Yong-Hyes Familie: Diese ist ebenso entsetzt darüber, dass Yong-Hye plötzlich kein Fleisch mehr essen will und lädt das auseinanderdriftende Ehepaar umgehend zum Essen ein, um Yong-Hye das Fleisch, das sie doch jahrelang so gerne gegessen hatte, gefälligst wieder schmackhaft zu machen – bis die Situation eskaliert.

Wer sich selbst in seinem Leben schon einmal dazu entschieden hat, kein Fleisch mehr zu essen, dem werden einige der Diskussionen, die nach Yong-Hyes Entschluss entflammen, vielleicht bekannt vorkommen, der wird das Unverständnis kennen, auf das Yong-Hye bei ihrer Familie stößt, das persönliche Gekränktsein der Familienmitglieder, als erhebe man mit dem eigenen Vegetarismus automatisch einen Vorwurf an die anderen. All jene Diskussionen und Mechanismen, die dann in Familien ablaufen können, werden im Roman „Die Vegetarierin“ auf die Spitze getrieben, zur Groteske überzeichnet, und Yong-Hyes Entscheidung, kein Fleisch mehr essen zu wollen, setzt eine Entwicklung in Gang, die ihr familiäres Gefüge nach und nach auseinanderbröckeln lässt.

Dabei versteckt sich hinter den Zeilen ein mit Yong-Hyes Geschichte eng verwobenes Netz aus Gewalt, Zwang und Unterdrückung, das immer wieder durchschimmert. „Die Vegetarierin“ ist ein Roman der Obsessionen: sei es Yong-Hyes bis ins Selbstzerstörerische ausufernder Ernährungswandel, sei es der zwanghafte Versuch von Mann und Eltern, aus Yong-Hye wieder die brave, unscheinbare, völlig normale Fleischesserin von früher zu machen, damit alles wieder ruhig und ordinär ist, oder seien es die erotischen Phantasien des Schwagers, die ebenfalls weite Teile des Romans einnehmen. Es geht um Oberflächlichkeiten und tief vergrabene Traumata. Und es geht um den Kampf von Individualität und Unterdrückung, um das Aufbäumen und den Drang nach Freiheit in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft. Der Roman, bereits 2007 in Süd-Korea erschienen und nun in deutscher Übersetzung vorliegend, hat den Man Booker International Prize 2016 gewonnen.

♠ Han Kang: Die Vegetarierin. Aufbau Verlag 2016, 190 Seiten, gebunden, 18,95 Euro. ISBN: 978-3351036539. ♠

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