Vom Springen, Fliegen und vom Fallen

Mein Urahn Ambrosius Arimond glaubte, alle Vögel unserer Erde besäßen eine gemeinsame Sprache. Sein Leben lang beschäftigte er sich mit der Entschlüsselung ihrer Gesänge, einer Welt magisch klingender Töne, Zeichen und Bedeutungen.

Wir schreiben das Jahr 2003 und Paul Arimond kommt 23-jährig nach Afghanistan, weil er sich bei der Bundeswehr freiwillig für den Sanitätsdienst gemeldet hat. Von klein auf ist Paul fasziniert von der Ornithologie, hat früher zusammen mit seinem Vater viele Ausflüge unternommen und stundenlang Vögel beobachtet – eine Tradition, die in der Familie Arimond bereits spätestens im 18. Jahrhundert ihren Ursprung nimmt. Denn in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts zog es Pauls Vorfahren Ambrosius nach Süd- und Zentralasien, um dort die Ländereien zu erkunden und ihm unbekannte Vogelarten zu entdecken und zu studieren. Dieser Leidenschaft geht Ambrosius auf seinen ausgedehnten Reisen durch den Mittleren Osten jahrelang nach und Paul, sein Nachkomme, führt die Beobachtungen über 200 Jahre später fort.

An vielen Stellen im Roman werden Pauls ornithologische Beobachtungen von Zeichnungen der beschriebenen Vögel unterstützt, von Aquarellen, die Paul mit starkem Kaffee auf Papier malt. Sie lassen den Leser innehalten und selbst zum Betrachter der Vögel werden und erinnern gleichzeitig an die Anfänge der Vogelkunde und damit wiederum an Pauls Vorfahren Ambrosius. Seine Reise stellt den scharfen Kontrast zu Pauls Stationierung in Afghanistan dar: Ambrosius’ Reiseberichte spiegeln eine idyllisch-verklärte Entdeckerstimmung, beschreiben eine idealisierte, längst vergangene Kultur, in der von Krieg keine Rede ist – der Name „Ambrosius“ steht fast symbolhaft für das Paradies auf Erden, das Pauls Urahn in der Ferne vorfindet. Paul hingegen findet sich in einem völlig anderen, zerstörten Afghanistan wieder und versucht trotz aller Widrigkeiten, in der Vogelbeobachtung die heile Welt seines Vorfahren zu finden.

Schnell wird deutlich, dass die Vogelbeobachtungen für Paul ein Weg sind, mit dem Kriegsgeschehen vor Ort zurechtzukommen. Sie nehmen den Hauptteil seiner Berichte ein, der Krieg wird oft gar nicht oder nur nebenher erwähnt, als würde er von Beginn an verdrängt werden. Doch nach und nach schleicht der Krieg sich ein in Pauls Berichte und je bedrohlicher die Situation in seinem Lager wird, desto verzweifelter versucht Paul, sich in die Beobachtungen der afghanischen Tierwelt zu flüchten, ist die Tierwelt doch neutrale Instanz im Kriegsgeschehen rund um ihn herum.

Vielleicht kommt es im Leben nur darauf an, irgendetwas zu finden, bei dem alles andere in Vergessenheit gerät.

In klarer, ausdrucksstarker Sprache verwebt Norbert Scheuer die beiden so konträren Themenbereiche Krieg und Ornithologie im Verlauf des Romans immer enger. Zwischendurch wechselt ab und an die Perspektive und es werden in Rück- und Vorgriffen immer neue Versatzstücke aus Pauls Lebensgeschichte eingestreut, deren Puzzleteile sich so nach und nach zu einer weiteren Geschichte von Flucht und Verdrängung zusammensetzen. Der Roman tastet sich auf diese Weise an das große Thema der Traumata heran, beschreibt feinsinnig die Auswirkungen von Krieg und Verdrängung auf die menschliche Psyche und hüllt die Rahmenhandlung in einen für Paul schützenden Mantel aus naturkundlichen Beschreibungen. Aber der Roman macht auch von Anfang an deutlich, dass die titelgebende „Sprache der Vögel“ ein zweischneidiges Schwert ist: Für Ambrosius sprechen die Vögel der Erde eine universale Sprache, die es zu entziffern gilt, die die Vögel auf ihren unsichtbaren Bahnen mit sich durch die Lüfte tragen. Für Paul werden die Stimmen der Vögel hingegen mehr und mehr Ausdruck einer inneren Zerreißprobe:

Ich höre wieder unbekannte, wohlklingende Vogelstimmen im Traum, aber ich fürchte, irgendwann wird sich das ändern und ich werde schreiend aufwachen.

Die Zuspitzung von Pauls innerem Kampf inmitten von Krieg und unbewältigter Vergangenheit stellt Norbert Scheuer grandios dar. Ein starker, lesenswerter Roman.

♠ Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel. C.H.Beck 2015, 238 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. ISBN: 978-3406677458. ♠

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Die Blindenschrift der Kiesel

Während und nach der Umstellung der Zeit gehen die Uhren nicht eine Stunde vor, nicht eine Stunde nach, sie gehen langsamer. Umstellung der Zeit ist eine Sammlung leiser, bedächtiger Gedichte, voll von zumeist recht kurzen, nachdenklichen Zeilen. Die Sprache der Gedichte bleibt meist eher schnörkellos, aber schön; alltagsnah, dem Alltag aber dennoch ein wenig entrückt.

 

Erleuchtung

Wie ich so stehe,
gibt mir das Meer
ein Licht,
das mich entzündet, und mit den Füßen
lese ich
die Blindenschrift der Kiesel.

Wie in diesem kleinen Ausschnitt finden sich im Gedichtband generell viele Bezüge zur Natur wieder und hinter jeder Zeile, hinter jeder Seite scheint unsichtbar ein Gefühl von Herbst, eine Ahnung von Vergänglichkeit und Wehmut zu wabern.

Kurzum und ohne viele Worte: Eine wunderbare Herbstlektüre.

♠ Michael Krüger: Umstellung der Zeit: Gedichte. Suhrkamp Verlag 2013. 117 Seiten, gebunden, 18,95 Euro, ISBN: 978-3518423943. ♠

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Fiat iustitia, et pereat mundus

Die altbekannte Schullektüre: Michael Kohlhaas, ein brandenburgischer Pferdehändler des 16. Jahrhunderts, reist nach Sachsen, um dort seine Pferde zu verkaufen. An der Landesgrenze angelangt, wird er von einem Schlagbaum und einem Wärter an der Weiterreise gehindert. Man erklärt ihm, dass der alte Landesherr gestorben sei und er, Kohlhaas, für die Weiterreise einen Pass benötige. Da er aber keinen Pass besitzt, ringt man ihm als Pfand zwei seiner Pferde ab, die er, sobald er mit dem entsprechenden Pass aus Dresden zurückkehrt, wiederbekommen kann. Kohlhaas lässt einen seiner Knechte mit den beiden Pferden zurück und kehrt nach einigen Wochen, in denen er ein ertragreiches Geschäft in Dresden gemacht hat, zur Grenze zurück.

In Dresden hat er erfahren, dass es die geforderten Pässe gar nicht gibt und man ihm am Schlagbaum zum Besten gehalten hat. Als Kohlhaas nun zum Landesherrn, dem Junker Wenzel von Tronka, zurückkehrt, muss er feststellen, dass die Pferde, die er zum Pfand dort gelassen hatte, von der Ackerarbeit zerschunden im Schweinestall stehen. Der Knecht, den er bei den Pferden gelassen hat, wurde von Knechten der Burg mit Peitschen, Prügeln und scharfen Hunden vom Hof gejagt und Kohlhaas selbst, der die Wiederherstellung seiner teuren Pferde fordert, wird unter Beleidigungen fortgeschickt. Kohlhaas, ein rechtschaffener Mann, wendet sich an die Justiz und fordert die vollständige Gesundpflegung und Rückgabe seiner Pferde. Doch dadurch, dass der Junker von Tronka familiär gut mit der Rechtsgewalt verbandelt ist, wird Kohlhaas‘ Klage stets abgewiesen, was zu zunehmender Verbitterung führt. Als dann noch seine Frau, die als seine Stellvertreterin eine Klage bei Hofe einreichen will, zusammengeschlagen und im Sterben liegend nach Hause zurückgebracht wird, sucht Kohlhaas andere Wege, um sich gegen die Willkür der Rechtsinstanzen zur Wehr zu setzen.

„Michael Kohlhaas“ erzählt, basierend auf wahren Ereignissen, die Geschichte eines Aufstandes des Bürgertums gegen den Adel und ist ein Lehrstück über Gerechtigkeit, Vergeltung und Selbstjustiz. Kohlhaas will sich Recht verschaffen, egal um welchen Preis. Er, der als gerechter Mann bekannt ist, lehnt sich gegen seine Obrigkeiten auf und wird durch die konsequente Verfolgung dieses Ziels unberechenbar. Auch über 200 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe ist Kleists Novelle noch immer eine spannende Lektüre, die nun zudem neu verfilmt wurde.

Zur Verfilmung: Regisseur Arnaud des Pallières setzt die Geschichte dabei bildgewaltig in Szene und hat einen teils sehr realistisch anmutenden, teils künsterlisch überhöhten Michael Kohlhaas geschaffen, der mit Mads Mikkelsen ideal besetzt ist. Mikkelsen beweist als Charaktermime eine unglaubliche Leinwandpräsenz und verkörpert Kohlhaas als beherrschten, aber zu allem entschlossenen Aufständler. Hervorragend ist auch die auf ein Minimum reduzierte Filmmusik, die zumeist aus Trommeln und tiefen Streichern besteht, bis der Film zusammen mit der Musik am Ende in einer grandiosen Schlussszene gipfelt. Die gelungene Komposition aus vielen Nahaufnahmen, wenigen Dialogen, einer wunderbaren Kulisse und einer dichten Atmosphäre macht „Michael Kohlhaas“ zu einer sehr sehenswerten Umsetzung einer ebenso lesenswerten Novelle.

♠ Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Erste vollständige Ausgabe: 1810. Erschienen beispielsweise bei Reclam, 135 Seiten, Taschenbuch, 2,60 Euro. ISBN: 978-3-15-000218-6.

Die Verfilmung von Arnaud des Pallières läuft seit dem 12. September 2013 in den deutschen Kinos. ♠

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There’s a new guy in town, he’s been dragging around…

Da sitzt ein Mensch vor ihm, dem namenlosen Protagonisten, und der Protagonist taxiert das Äußere, das Gesicht, kann Alter und Geschlecht zuordnen – aber sonst nichts. Dennoch weiß er, dass dies sein Vater ist – nicht, weil er ihn erkennt, sondern weil er in der Wohnung des Vaters ist. Das liegt nicht etwa daran, dass sie sich schon eine ganze Weile nicht gesehen haben, sondern daran, dass er, der Protagonist, sich keine Gesichter merken kann, weil er bei seiner Geburt zu wenig Luft bekam und ihm so ein Teil des visuellen Erinnerungsvermögens fehlt. So muss er alle Menschen immer wieder neu kennenlernen bis es sich ihm aus dem Kontext erschließt, wer sie sind, bis sie ihm eröffnen, wer sie sind oder bis er seinen Stolz überwindet und nachfragt – was bei Personen, die von seinem fehlenden Erinnerungsvermögen nicht wissen, zu Belustigung, Irritation oder Verärgerung führen kann.

Er sitzt nun seinem Vater gegenüber. Dieser hat einen Revolver bei sich liegen und als er danach gefragt wird, beginnt er, von seinem eigenen Vater, dem Großvater des Protagonisten zu erzählen. Der Großvater, ein eigenbrödlerischer Mensch, lebte in Garopaba, einer Küstenstadt im südlichen Brasilien, hielt sich dort mit Gelegenheitsjobs über Wasser und sorgte mit seinem manchmal hitzigen Gemüt und seinem recht lose sitzenden Messer für die ein oder andere brenzliche Situation. Da viele Bewohner der Stadt ihn, den Gaúcho, nicht ausstehen konnten, vermutet der Vater, dass man ihn umgebracht hat. Und tatsächlich soll es so gewesen sein, dass der Großvater auf einer Feier während eines Stromausfalls von mehreren Leuten erstochen wurde – aber es gab keine Leiche. Eine mysteriöse Geschichte, die nie aufgeklärt werden konnte.

Als er den Vater nun wieder nach dem Revolver fragt, eröffnet dieser ihm, dass er sich am nächsten Tag umbringen werde. Sie diskutieren, er protestiert, aber nach einer Weile wird klar, dass er seinen Vater nicht davon abhalten kann. Als letzte Aufgabe vertraut der Vater ihm seine fünfzehnjährige Hündin Beta an und bittet den Sohn, die Hündin zu einem Bekannten zu bringen, damit dieser sie einschläfert. Es sei, wenn er nicht mehr da wäre, für die Hündin zu qualvoll, ohne ihn weiterzuleben. Der letzte Wunsch des Vaters.

In der nächsten Szene ist es schon geschehen. Der Vater erschoss sich und wurde bereits begraben, der Protagonist hat große Teile seines Hab und Guts aufgegeben und ist auf dem Weg nach Garopaba. Nur eines ist nicht passiert: die Erfüllung des letzten Wunsches. Das Versprechen an den Vater hat er gebrochen, die Hündin bleibt bei ihm und er, der dem eigenen Großvater so ähnelt, zieht in eine fremde Stadt voll von für ihn immer fremd bleibenden Gesichtern. Er, der das Äußere seines Vaters schon längst wieder vergessen hat, genauso wie auch sein eigenes Gesicht, startet neu.

All dies geschieht auf den ersten Seiten des Romans und es leitet eine Sinnsuche, ein Sich-Treiben-Lassen, einen Bericht eines Aussteigers ein. Der Protagonist, der wie sein Vater und sein Großvater namenlos bleibt, zieht nach Garopaba und fängt dort noch einmal von vorn an. Ein wenig versucht er, in der Geschichte zu graben, nach Spuren seines Großvaters zu forschen, aber er merkt, dass er auf Schweigen und Ablehnung stößt und die Bewohner Garopabas an der Vergangenheit nicht interessiert sind. Dennoch lässt ihn der Mythos um seinen Großvater nicht los.

Der Kunstgriff, dass sich der Protagonist keine Gesichter merken kann, könnte Stoff für einen Thriller bieten und gibt der Geschichte ein Gefühl von hintergründiger Verunsicherung. Aber „Flut“ ist kein Thriller, ganz im Gegenteil. Es ist ein eher leiser Roman voll von ersten Begegnungen, von Sinnesbeschreibungen als Ersatz für fehlende Erinnerungen an Gesichter, von der Liebe zu Menschen, die man immer neu entdecken muss, von der Liebe zum Meer und zum Schwimmen, von einem Außenseiter, der seinem Großvater nicht nur äußerlich immer ähnlicher wird. Und wie das Meer, das in diesem Roman eine sehr große Rolle spielt, scheint auch der Erzählrhythmus das gleichmütige, dahintrebende Wogen der Wellen in sich aufgenommen zu haben. Selten braust es auf und es bleibt bei einem steten Wellengang. Dies geschieht sicherlich nicht zum Nachteil des Romans, bei dem es sich im Übrigen lohnt, die ersten Seiten noch einmal zu lesen, sobald man am Ende angekommen ist – in der Rückschau eröffnen sie nach der Geschichte des Großvaters den Blick auf einen neuen Mythos.

♠ Daniel Galera: Flut. Suhrkamp Verlag 2013, 425 Seiten, gebunden, 22,95 Euro. ISBN: 978-3518424094. ♠

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Begîrlich in dem hertzen mîn…

 Ein Mann blickt zurück auf seinen finanziellen wie emotionalen Ruin: Nicht nur wurde Christian Eschenbach (im Roman meist nur bei seinem Nachnamen genannt) von seiner Geliebten verlassen, auch seine eigentlich gut laufende Software-Firma muss durch eine Verkettung unglücklicher Umstände Konkurs anmelden. Sechs Jahre ist dies nun her, doch Eschenbach scheint die Ereignisse kaum verarbeitet zu haben. Er kapselt sich ab und nimmt das Angebot eines Freundes, auf der Nordseeinsel Scharhörn für einige Monate als Vogelwart zu arbeiten, nur zu gern an.

Die Arbeit eines Eremiten. In der Einsamkeit von Wind und Wellen zählt er die Vögel und wird ab und an von den Geistern seiner Vergangenheit heimgesucht, bekommt Besuch von den Personen, die ihm vor seinem Ruin nahe waren. Für ein Projekt, das er eigentlich schon längst abgebrochen hat, analysiert er das Verhältnis des Menschen zur Begierde, scheint selbst aber mit dem Leben schon abgeschlossen zu haben. Plötzlich kündigt sich per Telefon seine ehemalige Geliebte an und will ihn besuchen. Dies bringt den geordneten Tagesablauf des Eremiten durcheinander und er beginnt,  die vergangenen sechs Jahre in Rückschauen Revue passieren zu lassen.

„Vogelweide“ ist sehr ruhig, sehr bedächtig geschrieben – ein Erzählstil, der die Abgeschiedenheit Scharhörns gut wiedergibt. Die hier transportierte Atmosphäre der einsamen Naturschutz-Insel wirkt sehr realistisch und lässt vermuten, dass Uwe Timm zumindest eine Zeitlang selbst auf Scharhörn war. Gelungen sind auch Uwe Timms Darstellungen des Handwerks. Eher nebensächlich wird über den Roman verteilt immer wieder die Silberschmiedearbeit von Eschenbachs Freundin Selma erwähnt, die von Timm sehr detailreich und anschaulich beschrieben wird. Auch Restaurationsarbeiten an alten Autos und an Schiffen sind Teil der Erzählung. Die Erzählung selbst jedoch, die Rückschau Eschenbachs auf seine Beziehung, seine Affäre, seinen Beruf zieht sich streckenweise wie ein Kaugummi, wirkt antriebslos. Die Geschichte schaukelt sacht vor sich hin, bis sie nach etwa zwei Dritteln des Romans endlich an der Stelle angelangt ist, an der für Eschenbach, wie von vornherein bekannt ist, alles zusammenbricht und der Fortlauf der Handlung ein wenig Fahrt aufnimmt.

Wenn der Titel des Romans „Vogelweide“ lautet und sein Protagonist Eschenbach heißt, kommt man unweigerlich zu der Vermutung, es bestünden Anklänge an die mittelhochdeutsche Epik und Minnelyrik von Walter von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Parallen auszumachen fällt allerdings schwer, zumal sich „Vogelweide“ weder durch eine besonders lyrische Sprache noch durch eindeutige Verweise auf die mittelhochdeutsche Literatur auszeichnet. Eher steht dieses Zitat als vermeindliche Antwort auf die Vermutung:

Einmal überraschte er Eschenbach mit der Frage, ob er mit dem Eschenbach aus dem Mittelalter verwandt sei.
Nein. Leider nicht.

Schade eigentlich.

Uwe Timm hat großartige Romane geschrieben, von denen „Am Beispiel meines Bruders“ und „Halbschatten“ nur zwei Beispiele sind. „Vogelweide“ schürt daher hohe Erwartungen, denen der Roman aber leider nicht gerecht werden mag.

♠ Uwe Timm: Vogelweide. Kiepenheuer & Witsch 2013, 336 Seiten, gebunden, 19,99 Euro. ISBN: 978-3462045710. ♠

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And ever shall the Force remain with thee.

Das Werk, um das es hier nun geht, ist
Auch wenn man’s denken mag, nicht Parodie.
Es ist viel mehr Hommage und zeugt sogleich von
Sehr viel Humor und auch etwas Genie.

Der Inhalt kommt den meisten wohl bekannt vor
Und viele wuchsen auf mit jener Mär:
George Lucas‘ episch-klassischer Geschichte
Vom Krieg der Sterne und Luke Skywalker.

Was viele bisher noch nicht wussten, ist nun,
Dass eigentlich der Shakespeare Autor war.
Der bringt uns nun die erste Episode
In Versform und auch in fünf Akten dar.

Selbst wenn man die Geschichte längst schon kenn’n mag,
In Versform sie zu lesen, das ist neu,
Und wer den Shakespeare mag, wird das Stück lieben
Und bleibt ihm bis zur letzten Seite treu.

Wer Sprachspiel mag, dem sei dies Werk empfohlen,
Wer Star Wars liebt, dem freilich umso mehr,
Und auch die fünf der andren Episoden
Im Vers zu lesen hofft man wirklich sehr.

‚Ne wahrlich echt gelungne Adaption
Von Darth Vader und seinem …

… Todesstern!

♠ Ian Doescher: William Shakespeare’s Star Wars. Quirk Books 2013, 176 Seiten, gebunden, 10,90 Euro (ohne Preisbindung). ISBN: 978-1594746376. ♠

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Furchtbar.

Krissie Donald ist das, was sie selbst als gescheiterte Existenz bezeichnen würde: Sie ist Mutter wider Willen und kommt, auch wenn sie selbst beruflich als Sozialarbeiterin verwahrloste Kinder vor ihren Eltern schützt, nicht im Geringsten mit der eigenen Verantwortung klar. Sie wandelt von einer Bettgeschichte zur nächsten, ist nicht fähig, sich dauerhaft zu binden – sucht vielleicht, findet aber nichts, was dem Glück auch nur annähernd ähnelt. Auch ihr Kind entstand in einer drogengeschwängerten Nacht im Urlaub auf Teneriffa, ist vaterlos und überfordert sie. Um auszuspannen und den Kopf wieder frei zu bekommen fährt Krissie mit ihrer besten Freundin Sarah und deren Ehemann Kyle in die schottischen Highlands.
Sarah und Kyle wiederum versuchen seit Jahren erfolglos, ein Kind zu bekommen. Ihre Ehe ist dementsprechend seit langem auf eine Zerreißprobe gestellt und das Scheitern kündigt sich bereits lautstark an. Schon auf der ersten Seite erfährt der Leser, dass Krissie im Laufe dieses Ausflugs mit Kyle, dem Mann ihrer besten Freundin, Sex haben und ihre beste Freundin umbringen wird.

Wenn das kein Grund ist, weiterzulesen. Wenn das kein Grund ist, 200 Seiten darauf zu warten, dass endlich das passiert, von dem man sowieso schon weiß, dass es passiert. Wenn das kein Grund ist, einer wirr erzählten Handlung voll von abgedroschenen Teenie-, später Thrillerklischees zu folgen und dauerhaft nach der Spannung zu suchen, die auf der ersten Seite so plump aufgebaut wurde. Stetig schwankend zwischen Slapstick und Pornographie wird immer wieder versucht, inmitten von derber, witzelnder Sprache das Thema Kindesmissbrauch zu behandeln, was ebenso derb misslingt. Von der chaotischen Antiheldin über den frustrierten Ehemann, die nicht schwanger werden wollende, in Therapie befindliche, durchdrehende Freundin bis hin zum netten, kiffenden Aussteigertypen, dem heimlichen Helden, der für seine Angebetete alles tut und der von ihr wiederum nicht beachtet wird, wird hier jedes Klischee bedient. Wenn dann die verdrogte, saufende Sozialarbeiterin ihren Sohn, den sie vorher für eine wilde Nacht im Zelt verleugnet hat, den sie schreiend in der Wohnung allein ließ, den sie monatelang nicht einmal mit einem Lächeln bedacht oder mit mütterlicher Wärme behandelt hat, am Ende plötzlich doch wiederhaben will, ist die Absurdität perfekt, wird jedoch formschön verpackt und mit dem Etikett “Selbstfindung” versehen. Mögliche Sympathie mit der Protagonistin, die sich den ganzen Roman über schon nicht einstellen wollte, löst sich vollends in Verwirrung auf und reiht sich ein ins Wirrwarr der nicht nachvollziehbar handelnden Charaktere, gleich neben dem “Bitte, hier ist meine Pistole, erschieß mich doch, ach tust Du ja doch nicht, aber ich bin so ein schlechter Mensch”-Pädophilen, dessen Eskapaden nah am Voyeurismus vorbeischrammen. Spätestens das kann man auch mit dem überall anklingenden britischen Humor nicht mehr entschuldigen. Furchtbar.

♠ Helen Fitzgerald: Furchtbar lieb. Kiepenheuer & Witsch 2011, 240 Seiten, Taschenbuch, 7,99 Euro. ISBN: 978-3462043082. ♠

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Fight – Love! Ach nee, doch nicht.

Dafür, dass er Epileptiker ist, hat er seinen Weg gemacht. Er ist sechsunddreißig, promovierter Jurist und hält zehn Prozent der Anteile des elektrotechnischen Familienunternehmens, das sein Großvater in den dreißiger Jahren gegründet hat.

Die Rede ist von Roland Ziegler, der – wir schreiben das Jahr 1999 – nach Berlin zu einer Konferenz fährt, in der über Entschädigungszahlungen deutscher Firmen an ehemalige Zwangsarbeiter aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs diskutiert werden soll. Und Roland Ziegler ist, wie es der den Roman einleitende Satz bereits mitteilt, Epileptiker. Zwar ist er seit zehn Jahren anfallsfrei, doch als er in Berlin aus einem Taxi steigt, macht sich bei ihm das ungute Gefühl eines eventuell drohenden Anfalls bemerkbar. Um dem entgegenzuwirken, geht Roland in das nächstgelegene Café und trifft dort auf Zoe, eine Frau Ende zwanzig, die im Haus des Cafés wohnt und die er nach oben begleitet, um sich ein Mittel gegen Übelkeit mitgeben zu lassen. Roland ist von ihr von Beginn an fasziniert, und spätestens als Zoe ihn spontan auf seiner Geschäftsreise nach Amsterdam begleitet, verfällt er ihr mehr und mehr.

Der Roman verknüpft Rolands Lebensgeschichte und die seines Familienunternehmens mit Rolands Suche nach dem, was für ihn Liebe ist – denn eine Definition davon fällt ihm merklich schwer. Doch anstatt ein wenig facettenreicher über die Dinge nachzudenken, teilt Roland die Welt gern in Schwarz und Weiß ein. Es beginnt schon damit, dass er selbst, der Anzugträger und feine Geschäftsmann, zunächst doch sehr irritiert ist von der umtriebigen Jazzsängerin Zoe, die für ihn zu einer völlig anderen Welt gehört – was er ihrem Printshirt mit den Aufdrucken „Fight“ und „Love“ umgehend ablesen kann. Bei der Konferenz zu Entschädigungszahlungen hebt Roland seinen moralischen Zeigefinger, den er daraufhin den gesamten Roman über kaum mehr sinken lässt. Aber auch hier sind Rolands Gedanken zu moralischem Handeln kaum mehr als oberflächliche Überlegungen.

Kurt ist ein blonder, eloquenter, etwas langweiliger Riese. Auf einmal denkt er: ein Germane.

Bei einem betrügerischen Hütchenspiel in der Fußgängerzone („Der Hütchenspieler spricht das übliche vereinfachte Deutsch eines Ausländers, der nicht vorhat, die Sprache gründlich zu lernen.), dem Zoe und er auf der Straße beiwohnen, versucht Roland, sich zum edlen Ritter und Retter der Tugenden aufzuschwingen, scheitert aber daran, dass er das Vertrauen der jungen Frau, die gerade ihr Geld an den Hütchenspieler verliert, nicht gewinnen kann. Man mag sich fast schon hämisch darüber freuen, dass Roland sie nicht überzeugen kann, wenn man Betrachtungen liest wie:

Der Hütchenspieler spürt, dass sie nicht bereit ist, sich dem Fremden anzuvertrauen. Er spürt die Macht, die er über sie hat. In der Welt, aus der er stammt, ist er es gewohnt, dass Frauen sich seinem Willen beugen. Dass für Frauen zu lieben bedeutet zu gehorchen.

Solche Passagen verleihen dem Roman einen seltsamen Beigeschmack. Vielleicht ist er eher für Leser geschrieben, die hier die Arme verschränken und ein „Ja ist doch wahr“ vor sich hinnicken. Wenn sich zu solchen Sätzen noch die oftmals unrund wirkenden Dialoge gesellen, die Gespräche, die mitten im Thema abgebrochen werden, ohne dass dafür irgendein Grund ersichtlich ist, die etwas konstruiert wirkenden Erzählstränge, die am Ende in teils vorhersehbarer Weise zusammenlaufen und die manchmal schlichtweg nicht nachvollziehbaren Handlungen des Protagonisten, der in Bezug auf seine Epilepsie zwar heilfroh über seine zehnjährige Anfallsfreiheit ist, dann aber schlichtweg zu faul, sich neue Medikamente zu besorgen, als seine ihm ausgehen, bleibt leider nicht viel Lobenswertes übrig. Die familiär kleinen und die gesellschaftlich großen Themen (und davon gibt es mehrere) bleiben im Roman leider oft unausgegoren und enden nicht selten mit Rolands Flucht vor näherer Auseinandersetzung.

♠ Ulrich Woelk: Was Liebe ist. Deutscher Taschenbuch Verlag 2013, 300 Seiten, Taschenbuch, 14,90 Euro. ISBN: 978-3423249492. ♠

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„Mein inneres Auge hat kein Lid. Ich muss hinsehen.“

It could be anyone. Und weil dem so ist, heißen die beiden Protagonistinnen des Romans „Nachhinein“ JasmineCelineJustine und LottaLuisaLuzia. Austauschbar ähnliche Dreifachnamen, die, so wahllos sie auch wirken, aber schon auf den sozialen Hintergrund der beiden hindeuten könnten: Während LottaLuisaLuzia Kind gut situierter Akademiker ist, sind JasminCelineJustines Familienverhältnisse gelinde gesagt zerrüttet. Doch die beiden Mädchen sind beste Freundinnen, verbringen den Großteil ihrer ihre Freizeit miteinander, schließen Blutsschwesternschaft. Sie gehen zusammen in den Kindergarten und in die Grundschule, verbringen ihre Nachmittage zusammen, werden älter und üben sich in kindlich-spielerischem Näherkommen und Eifersucht – bis sich plötzlich ein Riss durch das Bild zieht. Aber lange scheint dieser Riss nur für JasminCelineJustine sichtbar. Ihr Leben wird auf den Kopf gestellt, ihre Kindheit wird abrupt beendet und sie flüchtet sich in die Parallelwelt ihres Super Nintendo, während LottaLuisaLuzia Klavier spielt oder mit ihren Eltern in den Urlaub fährt.

Mit eindringlichen, bildreichen Worten beschreibt Lisa Kränzler das Auseinanderdriften einer ehemals innigen Freundschaft, in der beide Seiten auf ihre Art und Weise nach innen vor der Welt flüchten. Je verzweifelter die eine Blutsschwester um Hilfe und Zuwendung bittet, desto rigoroser schottet die andere sich ab, verliert das Interesse an der Freundin, wendet sich dem Klavierspiel und anderen Freunden zu. LottaLuisaLuzia verdrängt, was JasmineCelineJustine ihr mitzuteilen versucht, wird aber immer wieder davon eingeholt.

Nun haben sie mich doch erwischt, die alten Bilder. Die Schlinge, der Hals, der Tritt und das Pendeln haben sie aus den Tiefen meines Gedächtnisses gezogen.
In den Dunkelkammern meines Hirns wurde ganze Arbeit geleistet. Ich begreife, dass die präzisen Abzüge jenes Tages in einem Entwickler aus Schuld gebadet wurden.
Mein inneres Auge hat kein Lid. Ich muss hinsehen.

Wie auch schon in Lisa Kränzlers Debütroman „Export A“ schaut hier eine Protagonistin mit widerwilligem Blick zurück auf einen Kindheits- oder Jugendabschnitt, der eigentlich in Vergessenheit geraten sollte und von dem höchstens nur noch die schönen Erinnerungen zurückbleiben sollten. Auch „Nachhinein“ ist eine Auseinandersetzung mit Verdrängtem, mit Traumata und zaghaften Bewältigungsversuchen. Lisa Kränzlers Sprache ist dabei wunderbar sprachspielerisch und andeutungshaft. „Nachhinein“ ist eine beeindruckende Mischung aus Erschütterung und verklärter heiler Welt, was sowohl inhaltlich als auch stilistisch kunstvoll umgesetzt wird. Uneingeschränkt empfehlenswert.

♠ Lisa Kränzler: Nachhinein. Verbrecher Verlag 2013, 269 Seiten, gebunden, 22 Euro. ISBN: 978-3943167160. ♠

(Zu Lisa Kränzlers „Export A“: „… zünde ein Feuer in mir an, brenne alles nieder“)

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Von Stecknadeln und Säckelchen

Wer frühzeitig aus dem Leben scheiden möchte, sollte dies nicht mit dem absichtlichen Verschlucken einer, mehrerer oder gar dutzender Stecknadeln forcieren. Denn abgesehen davon, dass es gegebenenfalls zu Unterleibsschmerzen kommen kann, könnte es erstens durchaus passieren, dass der behandelnde Arzt den Lebensmüden für einen Betrüger hält und daher einsperrt, um zu überwachen, ob man wirklich Stecknadeln verzehrt hat, und zweitens könnte es dazu führen, dass der interessierte, behandelnde Mediziner, sobald er von der Wahrhaftigkeit der außergewöhnlichen Nahrung überzeugt wurde, damit beginnt, ein auf die Nadel genaues Protokoll der Ausscheidungen derselbigen anzulegen – und sich um den sonstigen Geisteszustand des Patienten wenig zu scheren.

Dies könnte man zumindest aus dem ersten der sechs medizinischen Fachaufsätze des Darmstädter Arztes Ernst Büchner ableiten. Die zwischen 1823 und 1826 verfassten Dokumente wurden seinerzeit in den wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht und nun gesammelt vom Insel Verlag herausgegeben. Neben der bereits geschilderten Problematik einer Patientin, zum versuchten Selbstmord 44 Stecknadeln verschluckt, ohne dabei jedoch die gewünschte Wirkung erlangt zu haben, finden sich Abhandlungen über Schlafwandeln, Blutschwämmchen, die Tollwut, den Tripper – und die „Beobachtung einer glücklich abgelaufenen Selbst-Entmannung“.

Ernst Büchner, 1786 geboren, ist der Vater des Schriftstellers Georg Büchner und auf den ersten Blick mag die vorliegende Textsammlung durch diese Beziehung gerade aufgrund möglicher literarischer Bezüge des Sohnes auf die medizinischen Schriften seines Vaters interessant sein. Denn dem Sohn waren die Abhandlungen des Vaters in jedem Fall bekannt. Doch nachzuweisende Rückbezüge des Sohnes auf das Werk seines Vaters bleiben spärlich und so ist der vorliegende Band vielmehr in medizin- und gesellschaftsgeschichtlicher Hinsicht aufschlussreich. Auch Pharmazeuten könnten sich hier und dort erfreuen, wenn der Arzt beispielsweise seiner Stecknadel-Patientin Pillen nach der Formel „Rc. Pulv. rad. rhei, Sap. venet. aa. Ziß, fell. tauri insp ⅔ j. m. f. pil. gr. ij. consp. pulver. liquir. d. ad Seat. s.“ verschreibt. Noch viel mehr geht aber sprachkünstlerisch interessierten Lesern wahrlich das Herz über, liest man Büchners kunstvoll verstrickte Schachtelsätze, vor denen die vorliegenden Berichte nur so strotzen. Eines der kürzeren Beispiele:

„Ein Edelmann von 20 Jahren, der an periodischer Verwirrung des Verstandes litt, außerdem aber völlig gesund war, hatte, nachdem ihm ein Versuch, sich durch einen Selbstschuß, wobei er sich bloß eine schwere Kopfverletzung verursachte, das Leben zu rauben, verunglückt war, eingestanden, daß er schon seit mehreren Wochen verschiedene Dinge, als: Glas, Eisen, Nadeln, Knöpfe, Schnallen, einen Teller voll neuer Nägel, zwei Zoll in der Länge, und eine große Menge Tabaksöl ohne alle Absicht verschluckt habe, und klagte dabei doch nur wenige Leib- und Magenschmerzen.“

Dieser Satz ist auch ein gutes Beispiel für die sehr lesenswerten, von Büchner stets angeführten ähnlichen Fälle. Denn um seine eigenen Beobachtungen und Erkenntnisse zu belegen, führt er stets weitere ihm bekannte Fälle mit ähnlichen Symptomatiken auf. So lesen wir unter anderem von acht verschiedenen Tripper-Patienten und ihren ganz unterschiedlichen, zur Erkrankung geführt habenden Umständen des Beischlafs (liegend, stehend, im Freien, in vollem Genuss des Aktes oder auch kurzfristig unterbrochen „wegen plötzlichem Abscheu“ gegen die „liederliche Weibsperson“), von schlafwandelnden Mördern und diversen, sich selbst entmannt habenden Kastraten.

Spannend ist bei all den vorliegenden Fällen die wissenschaftliche Akribie Büchners, die bis ins Grenzwertige reicht. So findet er es richtiggehend bedauernswert, dass seine Stecknadeln essende Patientin Catharina D., die er auch gern einmal lapidar als „Gegenstand“ bezeichnet, zum Schluss seines Berichts genesen und nicht weiter in seiner Behandlung befindlich ist. Um seine These der unterschiedlichen Verdauungsprozesse von Näh- und Stecknadeln zu belegen, schafft sich Büchner kurzerhand einen Hund an, dem er tagelang verschiedene Nadeln ins Futter mischt. Im ersten Teil seiner Versuchsreihe führt er dabei über die vom Hund wieder ausgeschiedenen Nadelanzahlen ein genaues Tagebuch. Wäre dies nicht bereits fragwürdig genug, erschlägt er den Hund später und schneidet ihn umgehend auf, um die Reise der verbleibenden Nadeln im Inneren des Hundes nachvollziehen zu können. Büchner schließt seinen Stecknadelbericht im Übrigen mit seiner Hoffnung darauf, Catharina D. irgendwann einmal auf dem Obduktionstisch vor sich liegen zu haben, um auch ihn ihre Innereien einen genaueren Blick haben zu können.

Dass Georg Büchner seinen Protagonisten Woyzeck mit einer aus Erbsen bestehenden Monodiät foltern lässt, scheint der einzige einigermaßen wahrscheinliche Rückbezug auf die vorliegenden wissenschaftlichen Texte seines Vaters zu sein. Denn der wissenschaftliche Eifer von Woyzecks behandelndem Arzt lässt einen überzeichneten Ernst Büchner vermuten, wenn jener Doktor ausruft: „Hat Er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck? Nichts als Erbsen, Cruciferae, merk‘ Er sich’s! […] Woyzeck, muss Er nicht wieder pissen? Geh‘ Er einmal hinein und probier‘ Er’s!“

Weitere greifbare Rückschlüsse auf Georg Büchners literarisches Werk bleiben jedoch aus. Vielmehr sind die vorliegenden Aufsätze ein teils erheiterndes, teils skurriles Stück Medizingeschichte, ganz unabhängig davon, ob man mit dem literarischen Schaffen des Sohnes vertraut ist oder nicht. Wer also – insbesondere von der männlichen Leserschaft – vor detaillierten Berichten von Geschlechtskrankheiten und Selbstkastrationen nicht zurückschreckt, dem sei „Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln“ als lesenswerter Einblick in fast zweihundert Jahre alte ärztliche Praktiken empfohlen. Und auch wahrlich jeder Schachtelsatzverehrer wird in Ernst Büchners Berichten auf seine Kosten kommen. Nur ist er ein wenig mit Vorsicht zu genießen, jener Arzt, der seine Patientin lieber einsperrt und ausgeschiedene Stecknadeln zählt, anstatt ihr mit Rat und Hilfe beiseite zu stehen und vor weiteren Suizidversuchen zu bewahren. Und teils mag er in seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen auch recht forsch erscheinen, wenn er etwa konstatiert, dass übermäßige Onanie dazu verleitet, sich „das Säckelchen samt den beiden Eiern“ abschneiden zu wollen. Denn für Büchner ist klar: die Fallbeispiele beweisen dies ganz eindeutig.

♠ Ernst Büchner: Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln. Hrsg. von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Insel Verlag 2013, 135 Seiten, gebunden, 14,95 Euro. ISBN: 978-3458193722. ♠

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